Zusammenspiel

Christoph: Drei Wochen Kanada. Drei Wochen mit vielen Erlebnissen. Solche die man gerne hat und solche, die man gerne auslassen würde. Aber die positiven wie negativen gehören zum Leben. Die Frage am Schluss ist, wie man damit umgeht. Irgendwie geht es immer weiter. In unserer Reisezusammensetzung muss man eh gewappnet sein. Dass aber gleich so viele Ereignisse unsere Flexibilität fordern, damit haben wir nicht gerechnet.

Vera: Wie ich in meiner Mail mit der Einladung zum Mitreisen via Blog erwähnte, bin ich ja mit zwei Herren unterwegs. Jeder der Beiden bringt unterschiedliche Voraussetzungen mit, die mich mal unterhalten, mal aber auch recht fordern. Das Blatt hat sich mit meinem Unfall ziemlich gewendet. Nun war ich nicht mehr die vollständig Einsetzbare, sondern zeitweise auch auf Hilfe angewiesen. Doch aufgeben war für mich keine Option und die beiden Herren bewiesen grosse Fähigkeiten, mit der neuen Situation umzugehen. Die neuen Umstände spornten unser Team an, und wir sind inzwischen Meister im Zusammenspiel bei Alltagsverrichtungen, Transfers in Taxis oder Züge, Stadterkundigungen und vielem mehr. Was das Schöne daran ist, es ist zwar alles aufwändiger (bis Christoph und ich am Morgen bereit sind, vergehen zwei Stunden) und anstrengender, aber wir erleben so viele komische Situationen, dass wir zwischendurch noch mehr Zeit verlieren mit über uns und die Situationskomik zu lachen.

Ich denke, die Umstände haben uns eine aussergewöhnliche und erlebnisreiche Reise beschert, die wir respektive ich nie so geplant hätte(n). Wir hätten Kilometer abgespult, hätten Tausende Autos gekreuzt. Aber hätten wir auch all die Kleinigkeiten entdeckt? Wäre unser Blick nicht ausschliesslich nach vorne gerichtet gewesen?

Da wir nicht wissen wie es andersrum gewesen hätte sein können, konzentriere ich mich auf das, was ist und war. Wir erlebten vieles erst dank meines Unfalls. Ein Pfleger in der Emergency in Victoria erzählte mir von seiner Grosstante in Schaffhausen. Dank Mr. Eds Notfall lernten wir tolle Menschen in Jasper kennen, die uns mit ihrer Herzlichkeit unvergessen bleiben werden. Eigentlich wandelte sich mein Unfall zum Glücksfall (abgesehen von den Schmerzen und der Umständlichkeit), und wir von Pechvögeln zu Glückspilzen.

Samstagmorgen, 27. Oktober 2018, 8:25 Uhr. Gemäss Flugplan wären wir seit einer halben Stunde in Zürich. Technische Probleme am Flugzeug haben den Abflug um eineinhalb Stunden verzögert. Die Verspätung hat aber auch etwas Positives: den Sonnenaufgang hoch über den Wolken. Ein Sonnenaufgang, der uns zeigt, die Erde dreht sich weiter, auch wenn man selber das Gefühl hat, sie stehe still.

Flugzeuge gehören nicht zu meinen bevorzugten Fortbewegungsmitteln. Doch konnte ich diesem Flug von Toronto zurück in die Schweiz etwas abgewinnen: den Mond und das Sternbild Orion in über 11’000 Metern über einem unendlich weiten Wolkenmeer scheinen zu sehen, ist ein besonderes Erlebnis. Und die aufgehende Sonne am Wolkenhorizont lässt mich einmal mehr über das Wunder Erde staunen. Ein neuer Teil dieser Erde durften wir, Christoph, Mr. Ed und ich, gemeinsam entdecken und uns an Vielem erfreuen und über Manches staunen. Dafür sind wir sehr dankbar und werden diese drei Wochen kanadisches Abenteuer nie vergessen.

Der tapfere Mr. Ed

Über zwei Wochen ist es her, dass Mr. Ed ein Häufchen Elend war. Seine Vorderbeine eingeknickt, die Hinterbeine im Elend. Niemand wusste, ob Mr. Ed wieder auf die Beine kommt und die Reise nach geändertem Plan weitergehen kann. Das Resultat ist bekannt: Mr. Ed wurde in Jasper von Jason und seinem Team verarztet. Dieser Notversorgung (vier Kabelbinder) hält immer noch. Die tragenden und wichtigen Teile waren nicht von einer Blessur betroffen. War erst geplant, in Calgary mit Mr. Ed eine Notfallstation (Rollstuhlhändler) aufzusuchen, musste diese Idee schnell verworfen werden. Das für die Reparatur notwendige Plastikteil gibt es nur in Europa, schliesslich sei Mr. Ed deutscher Herkunft, wie die Markenvertretung in Kanada mir mitteilte. Mr. Ed hielt sich auf den Beinen, solange er nicht zusammengefaltet wurde. Also schauten wir verbal und physisch gut zu ihm.

Mit jedem unternommenen Kilometer wuchs das Vertrauen in die Notversorgung. Sollte er also auch den Flug von Calgary nach Toronto gut überstehen, liesse sich die Reise sorglos weiterführen. Den Flug überstand er im ungefalteten Zustand gut. Inzwischen verlieren wir keine Gedanken mehr daran.

Mehr Sorgen machte ich mir über den Zustand der Reifen. Die Risse wurden und werden immer mehr. Klar, Reifen wären sicher einfacher zu finden als Rollstuhlteile. Fahrradgeschäfte gibt es und dort wären sicher geeignete Gummis zu finden. Eine kleine Recherche im Internet führte zu entsprechenden Auskünften. Zu lesen war da dann auch noch, die Reifen seien unplattbar. Lachte ich nun aus Erleichterung oder wegen des Ausdrucks unplattbar? Mr. Ed ist unplattbar und, so scheint es, unverwüstlich.

Überhaupt ist Mr. Ed ein Lastesel und Arbeitstier. Für unsere Rundfahrt Toronto – Kingston – Montreal – Ottawa – Toronto musste er neben dem Fahrer auch noch zwei schwere Rucksäcke transportieren. Unterstützung bekam er vom Swiss-Trac, der mit einem Koffer beladen war. Reduziert auf das Notwendige war das Gepäck so umfangreich und gewichtsmässig optimiert, dass die zwei Einarmigen gut reisen konnten, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Und es hat bestens geklappt.

Für Mr. Ed heisst es am Freitag noch einmal ab in den Flugzeugbauch. Und knapp acht Stunden später werden sie ihn uns in Zürich (hoffentlich ohne weitere Blessuren) wieder aushändigen. Die Geschichten mit und um Mr. Ed werden weitergehen. Es wird solche geben, die sich zu erzählen lohnen. Und es wird Geschichten geben, die wir für uns behalten. Und was für Mister Ed, das sprechende Pferd gilt, hat auch für Mr. Ed, den Rollstuhl Gültigkeit. Der Text des Titelsongs von Mister Ed sagt alles, was es zu sagen gibt:

A horse is a horse, of course, of course,
And no one can talk to a horse of course
That is, of course, unless the horse is the famous Mr. Ed.
Go right to the source and ask the horse
He’ll give you the answer that you’ll endorse.
He’s always on a steady course.
Talk to Mr. Ed.

(Ein Pferd ist natürlich ein Pferd,
Und niemand kann natürlich mit einem Pferd sprechen
Das ist natürlich, es sei denn, das Pferd ist der berühmte Mr. Ed.
Gehe direkt zur Quelle und frage das Pferd
Er wird dir die Antwort geben, die du unterstützen wirst.
Er ist immer auf einem konstanten Kurs.
Sprich mit Mr. Ed)

More to come- stay tuned!

Ottawa

Ottawa oder [Otauà], wie uns schon bei der Ankunft im Bahnhof verkündigt wird, heisst uns mit seinen Nachtlichtern willkommen. Am nächsten Morgen begrüsst uns ein sonniger Tag und die Aussicht von unserem Zimmer, das eher einer kleinen Wohnung ähnelt, ist umwerfend schön:

Wir machen uns mit dem Taxi von Abdul auf den Weg in die Stadt. Wohin wir wollten, lautet seine Frage. Wir beginnen mit dem höchsten Punkt der Stadt. Der höchste mit Doppelbedeutung, geographisch und politisch: Wir steigen auf dem Parlament Hill aus.

Königin Viktoria hat im 19. Jahrhundert Ottowa zur Hauptstadt Kanadas gekürt und liess für die Regierenden eine Schlossanlage inklusive Turm in Anlehnung an den Londoner Big Ben erbauen. Sein Geläute steht übrigens dem Original in nichts nach! Ich komme mir vor, als sei ich nicht einem Taxi, sondern Cinderellas Kutsche entstiegen. Doch werde ich abrupt aus meinem Märchen gerissen. Auf der Suche nach den Washrooms, bellt mich ein Security an: Go out here! Out! Ob ich wohl mit meinem Gipsarm so bedrohlich wirke? Sicher ist, dass Monsieur Trudeau und seine Regierung gut bewacht werden.

Der Rundgang um die Parlamentsgebäude gibt uns den Blick über die Stadt frei. Sie wird durch den Fluss Rideau getrennt, ist aber durch zwei grosse Brücken wieder verbunden. Ottowa scheint von Grün umschlungen, überall hat es herbstlich gefärbte Bäume und Parkanlagen, die vom Stadtrand in die Stadt hineinwachsen.

Wir spazieren vom Parlament Hill Richtung Stadt und suchen Schutz vor dem eisigen Wind und Wärme im Einkaufszentrum Centre Rideau. Es ist nicht ganz so gross wie dasjenige von Montreal, doch auch gross genug, um sich zu verlaufen. Aufgewärmt und mit Kabelbindern für Mr.Ed ausgestattet (siehe Beitrag: Der tapfere Mr. Ed), verlassen wir diesen Einkaufspalast und machen uns auf den Weg zum By Market. Er liegt gleich um die Ecke, und es tut sich für uns wieder eine neue Welt auf. Wir stehen mitten in der Altstadt Ottowas. Zweistöckige Häuser reihen sich aneinander, viele aus rotem Backstein gebaut, andere aus Sandstein. Der Stil ähnelt sich, doch hat jedes seine ausgeprägte Individualität. Hier wird etwas von der Bodenständigkeit des ursprünglichen Ottowas fühlbar. Die ersten Bewohner waren Holzarbeiter und auch Königin Viktoria musste deren ursprüngliche Selbstverständlichkeit erkannt haben. Ottowa hat sich seine Bodenständigkeit erhalten, schafft den Zugang zur Modernen ohne diese Bodenhaftung zu verlieren. Von all dem erzählen die Stadt und die Menschen, die sich in ihr bewegen. Im Altstadtviertel ist das moderne Leben eingezogen: viele Souvenierläden, irische Pubs, Bars, einige Lebensmittelläden, Coiffuresalons oder Nailstudios und Restaurants statten die Untergeschosse der Häuser aus. Mitten in diesem Quartier steht die Markthalle. Heute finden sich hier vor allem Verpflegungsstände verschiedenster Nationen und einige Läden mit kanadischem Handwerk. Eine bunte Welt, in der wir uns sehr wohl fühlen (wenn es bloss nicht so kalt wäre!).

Am nächsten Tag möchten wir den Jaques Cartier Park besuchen und die Rideau Falls. Abdul setzt uns am Eingang des Parks ab. Es beginnt zu regnen. Das erste Mal seit Victoria. Wir nehmen es gelassen, Kapuzen rauf und weiter geht‘s. Ach ja, Mr. Ed! Ihm macht der Regen nichts aus, im Gegenteil, so werden seine verstaubten Räder vielleicht etwas gereinigt. Aber nun zurück zu unserem Parkbesuch: wir gehen und rollen Richtung Eingang. Durch grüne Absperrgitter sehen wir grosse Baumaschinen und riesige Pflanzenskulpturen: Pferde, eine Eisenbahn, Fantasiegestalten. Wie gerne würden wir diesen Park entdecken! Aber uns wird durch den Saisonschluss und die Bauarbeiten zur Erneuerung der Skulpturen der Zugang verwehrt. Wieder sehen wir die Wasserfälle nicht.

Auf dem Weg zurück in die Stadt grüsst uns vom Strassenrand her eine freistehende Kirche. Notre-Dame heisst uns in neugotischem Stil willkommen. In ihrem mit wunderschönen Holzschnitzereien verzierten Innern geniessen wir die Wärme und die anheimelnde Atmosphäre.

Danach steht ein Zvieri im ByWard Market und Mitbringsel-Einkauf auf dem Programm. Später lassen wir uns  voller Eindrücke von Abdul ins Hotel zurückfahren.

Morgen wird uns unsere letzte Zugfahrt nach Toronto zurückführen, dahin wo uns der Bär Jasper und das Flugzeug nach Zürich erwarten.

Die Vielfalt zweier Sprachen

Eigentlich haben wir keine Probleme, uns in Kanada zu verständigen. Wir sprechen beide, unterschiedlich gut zwar, Englisch und Französisch. Aber eben, das Eigentlich beinhaltet ja schon unsere Stolpersteine. Es beginnt in Vancouver in der Bahn vom Fluhafen in die Stadt. Christoph wird auf seinen Swiss-Trac angesprochen. Ich strenge mich an und verstehe das meiste. Das kanadische Englisch unterscheidet sich in der Aussprache recht deutlich vom amerikanischen oder britischen Englisch. Beim Personal im Hotel gehts weiter. Alles Anstrengen und genauestes Zuhören nützen uns nicht viel. Das Sprechtempo ist sehr hoch und der Slang so ausgeprägt, dass wir die jeweilige Person ziemlich ratlos ansehen. Bei einer langsameren Wiederholung haben wir zumindest eine Chance, den Zusammenhang zu verstehen.

Je weiter wir nach Osten reisen, desto schwerer verständlich wird das Englisch der Kanadier. Einen Höhepunkt erleben wir an der Rezeption unseres Hotels in Calgary: wir fragen, wo wir den Swiss-Trac deponieren dürften. Der junge Mann lehnt sich mit schräger Kopfhaltung über die Frontdesk und meint: I don‘t understand your accent. What did you say? Seine Antwort verstehen wir dann auch erst bei der dritten Wiederholung…

In Montreal versuche ich es mit meinen Französischkenntnissen. Zu verstehen scheinen mich die angesprochenen Menschen, es fragt jedenfalls niemand nach, wenn ich etwas sage. Wie es uns mit dem kanadischen Französisch ergeht? Kennt Ihr den Film Bienvenue chez les Ch‘tis? Genau so sind wir am Rätseln, was unser Gegenüber uns mitteilen möchte. Doch, doch, ab und zu verstehen wir. Ein Kellner fragt Christoph höflich: Vous-avez besoin de la [schais]? Nach kurzem Überlegen kommt bei mir die Erkenntnis: er meinte la chaise. Oh, das kann ja heiter werden!

Einmal fragen wir nach dem Weg. Die Antwort, wie wir sie verstehen: Chez le vingt août à gauche. Wir suchen nach einem Schild eines Restaurants mit dem Namen vingt août. Beim Schild der Kaffee-Kette Van Houtte schauen wir uns an und lachen los. Willkommen bei den frankophonen Kanadiern!

Mit der Zeit, vermutlich nach viel Zeit, kann man sich sicherlich an die kanadische Aussprache gewöhnen. Doch soviel Zeit ist uns in Montreal nicht vergönnt. Zum Schluss unseres Besuches erhasche ich aber noch ein Kompliment. In einer Kleiderboutique fragt mich die Verkäuferin, ob ich eine Kundenkarte habe oder eine wolle. Ich verneine und sage ich sei nicht von hier. Sie erstaunt: Ah, vous n‘ êtes pas de Montréal?  Ob sich wohl mein Französisch dem kanadischen angenähert hat? Um dies zu erörtern, bleibt keine Zeit. Wir nehmen am selben Nachmittag den Zug nach Ottawa. Da wird mehrheitlich Englisch gesprochen, kanadisches Englisch wohlgemerkt!

Un conducteur rolli à Montréal

Bei meinen Überlegungen zum Titel kam mir sehr schnell das Lied An Englishman In New York von Sting in den Sinn. Das Lied beginnt mit der Aussage I’m an Alien (Ich bin ein Fremder). Fremd fühlte ich mich nicht als Ausländer, sondern als Rollstuhlfahrer. Den Zug von Kingston konnte ich schnell verlassen. Das Perron war auf die Höhe des Waggoneingangs gebaut (ca. 1,5 m über der Schiene) und in Montreals Untergrundbahnhof stand der Schweizer Konvoi bald in der Bahnhofshalle, bereit den Weg zum Hotel in Angriff zu nehmen. Die Angaben, welchen Ausgang man wo erreicht, sind gut sichtbar. Boulevard Robert Bourassa, Rue Belmont oder Rue de la Gauchetière heissen die Ausgänge und, so habe ich sie recherchiert, wären für uns gut, schnell das Hotel erreichen zu können.

Nur mit dem Schnell ist es so eine Sache. Ausgang Boulevard Robert Bourassa endet für einen Rollstuhlfahrer in einer Sackgasse: Rolltreppe respektive Treppe. Klar, es gibt Rollifahrer, die Rolltreppen nehmen und so Etagen überwinden. Wäre für mich das köperlich machbar (ist es nicht), käme es trotzdem nicht in Frage. Ich hätte Angst beim Aufwärtsfahren vor dem Rückwärtsfallen. Also machen wir uns auf, unser Glück beim Ausgang zur Rue Belmont zu versuchen. Das Resultat ist das gleiche. Das wiederholt sich auch für die Rue de la Gauchtière. Der Bahnhof spült uns nicht wieder an die Oberfläche. Sehnsucht nach dem Präriebahnhof Kingston kommt auf. Gedanken fliegen durch den Kopf und die Suche nach geeigneten Bänken als Schlafgelegenheit. Werden wir Montreal überhaupt einmal anschauen können, bevor unser Reise weiter nach Ottawa geht?

Montreals Bahnhof an einem Freitagabend um 21 Uhr ist fast ausgestorben. Vereinzelt sitzen noch Leute in den wenigen (etwa 15%) offenen Schnellimbissrestaurants. Die Schalter der Viarail sind längst geschlossen, die letzten Züge aus Ottawa und Toronto werden Montreal gegen 22 Uhr erreichen. Dann schliessen sie den Bahnhof und öffnen ihn erst wieder am Samstagmorgen. Schöne Aussichten! Irgendwann erblicken wir einen dunkelhäutigen Beamten, der bei einer Bahngesellschaft angestellt zu sein scheint, die für den Nahverkehr zuständig ist. Der rundliche Mann ist unsere Hoffnung. Vera versucht auf französisch ihm zu erklären, dass wir auf der Suche nach einem Lift seien und ob er uns weiterhelfen könne. Zuerst verstand er oder wollte er unser Französisch nicht verstehen. Als er bemerkte, dass wir beharrlich blieben, reagierte er auf unsere Frage. Seine Antwort war aber eine Enttäuschung: Nein, er wisse nicht ob und wo ein Lift wäre, er nähme IMMER die Treppe. Hatte ich seinen rundlichen Körper zu lange gemustert?

Weitersuchen war angesagt. Wir hatten das Gefühl, alle möglichen Ausgänge schon abgeklappert zu haben. Hinter keinem Restaurant, neben keinem Geschäft und in keiner dunklen Ecke liess sich eine Art von Aufzug finden, die auch nur annähernd rollstuhltauglich gewesen wäre. Was tun? Die Rolltreppe trotzdem nehmen?

Unsere (oder besser geschrieben meine) Rettung nahte von hinten. Ich vermute, der Sicherheitsmann hat uns Suchende länger beobachtet und sich uns dann doch noch erbarmt. Jedenfalls erklärte er uns ausführlich, es gäbe ausserhalb der Bürozeiten nur einen Lift, den man nehmen könne. Und ER wisse, wo der sei. Tatsächlich führte der Lift eine Etage höher und eine Hotelhalle durchquerend erreichten wir die Rue Belmont und eine halbe Stunde später waren wir in unserer Unterkunft.

In Montreal gibt es seit den 1960er Jahren die Undergroundcity. 30 Kilometer Gänge, Passagen und Wege, die die halbe Stadt unterqueren. Soll ich nun erzählen, wie lange wir einen Eingang suchten und was wir alles erlebten? Ich lasse es, weil der Beitrag viel zu ausführlich wird. Ebenso lasse ich meine Ausführungen zur Gastronomie in Montreal sausen. Das Suchen von rollstuhlgängigen Restaurants ist in Montreal wesentlich einfacher als das Finden. Ausgenommen, man gibt sich mit Fastfood zufrieden…

More to come – stay tuned!

Versteckte Kirchen

Früher machte ich Reisen, um Kirchen zu besichtigen und sie kunsthistorisch und theologisch zu verstehen. Später habe ich mich in die Materie vertieft, Gruppen geführt und versucht, die Teilnehmenden für die sakrale Kunst zu begeistern.

Wenn ich heute unterwegs bin, was ich als Früherzieherin ja viel bin, fallen mir die Kirchen immer sofort ins Auge. In der Zentralschweiz sind es meist riesige Gotteshäuser, die von weit her sichtbar sind.

Hier in Kanada stelle ich fest, dass ich eher zufällig auf Kirchen stosse. Mein Augenmerk richtet sich in den Grossstädten wohl oder übel zuerst auf die himmelsstrebenden Hochhäuser. Diese locken ja auch mit glänzenden, spiegelnden Riesenfassaden und spannender Architektur. In Vancouver entdecke ich an einer Kreuzung zwischen Hochhäuser eingeklemmt eine Kirche. Klein ist sie nicht, wie man vielleicht aus meiner Schilderung entnehmen könnte. Nein, sie hat eine stattliche Grösse, ist, wie viele Kirchen Kanadas, im neugotischem Stil des 19. Jahrhunderts gebaut. Früher wirkte sie sicher gross und erhaben, und sie würde es heute noch tun, wäre sie freistehend, ohne die Glasgiganten rechts und links. So würde ich sie sicher sofort wahrnehmen, wie sie in der Realität ist. Diese erste Kirche hat mir geholfen, meinen Blick wieder kirchenorientiert auszurichten. Und siehe da: es gibt sie zuhauf. Mehr oder weniger versteckt wie in Vancouver finde ich sie auch in Calgary, Toronto, Kingston und Montreal. Mal werden die Nachbarshäuser oder -glastürme direkt an die Kirchenfassade gebaut, mal stehen die Gotteshäuser auf einem Platz, gehen aber in der Fülle des Gigantismus der umliegenden Häuser verloren.

Bei solchen Beobachtungen gehen mir so einige Gedanken durch den Kopf: früher wurden die Kirchenbauten dem Umfang des vorhandenen Geldes angepasst, doch waren die Grösse des Kirchenschiffes und die Höhe der Türme wichtig für das Ansehen einer Stadt. Heute scheint es nicht viel anders zu sein. Toronto gilt als ehrgeizige Stadt und baut die schwindelerregend hohen Hochhäuser und Türme. Auch in Vancouver macht sich dieses Phänomen breit. Ein vordergründiges Macht -und Geldgehabe? In den Nebenquartieren findet man auch in diesen Städten das normale Leben sehr unterschiedlicher Bevölkerungsschichten.

Doch es gibt auch Ausnahmen bei den versteckten Kirchen. Solche sehe ich immer wieder in Kleinstädten oder Dörfern. Hier stehen sie freier und werden nachts gar beleuchtet. So gesehen auf der Zugfahrt von Montreal nach Ottowa.

Montreal – eine Stadt mit zwei Gesichtern

Bei unserer Ankunft ist es schon dunkel. Wir gehen die 1,2 km zum Hotel zu Fuss, nun ja, eigentlich gehe nur ich zu Fuss. Christoph und Mr. Ed fahren also mit mir durch die beleuchtete Stadt. Unser Weg führt erst an einer verkehrsreichen Strasse entlang. Links und rechts die für eine kanadische Grossstadt typischen schier unendlich hohen Häuser.

Dann biegen wir in unsere Hotel-Strasse ein, in die Rue St. Catherine: breite Trottoirs, die bekannten Fussgängerampeln (ohne Kuckuck!), gut befahrene Strassen und viele Leute unterwegs. Wir kommen an Theatern und Museen vorbei, an beleuchteten Konzerthäusern, riesigen Leuchtplakaten. Diese Stadt lebt und gibt uns sofort das Gefühl, angekommen zu sein.

Am nächsten Mittag (wir haben uns wieder einmal eine genügend lange Nachtruhe gegönnt) machen wir uns auf zum Bahnhof, um unsere Fahrkarten nach Ottowa und von dort zurück nach Toronto zu buchen. Die Sonne scheint und bringt alles sprichwörtlich an den Tag: der Zauber der Nacht ist verflogen. Die Schilder und Häuser sind die gleichen, doch wirken sie am Tag verlebt, alt und irgendwie stumpf. Montreal scheint in die Jahre gekommen zu sein. Auch die Leute unterwegs sind anders als in der Nacht. Keine herausgeputzten Menschen (Konzert- und Theaterbesucher?) mehr, sondern einfach gekleidete, manchmal ärmlich anmutende Hausfrauen und Familien, viele Jugendliche sind unterwegs.

Mit den Fahrkarten im Rucksack machen wir uns auf den Weg zum Vieux Port und zu Vieux Montréal. Eine kilometerlange Promenade führt uns dem alten Hafen entlang. Rostige Warenlagerhäuser und -silos erzählen von der einst grossen Handelsmetropole Montreal. Heute findet man an den neueren Docks Rundfahrtschiffe für Touristen, die aber schon Saisonschluss haben, ein Riesenrad, einen Kletter- und Abenteuerpark mit zwei Piratenschiffen. Wir steigen eine Strasse hoch, die uns zum alten Montreal führt, zur Altstadt, die noch sehr gut erhalten ist und gut gepflegt wird.

Wieder dunkelt es langsam ein, die Häuser sind zum Teil beleuchtet oder schimmern im Strassenlampenlicht. Eine pittoresk und heimelige Ambiance strahlt uns entgegen und wir erfreuen uns an dem gefundenen Bijou. Unser Abendessen geniessen wir in einem ebensolchen Haus, begleitet von jungen Jazzmusikern.

Da wir nur einen kleinen Teil von Vieux Montréal gesehen haben, besuchen wir es am nächsten Tag nochmals. Und wieder sind wir ernüchtert: die Häuser aus grauem Kalkstein und den flachen Fassaden wirken kühl wie das Wetter. Selbst die durchbrechende Sonne vermag unseren Eindruck nicht zu ändern. Was immer noch pittoresk ist, sind die kleinen Geschäfte und Restaurants oder Bistros in den Häusern. Die meisten heissen einen mit einem rustikalen, gemütlichen Innern willkommen. Unser einziges Problem ist, dass fast ausnahmslos alle nur über Stufen erreichbar sind…

Schliesslich machen wir uns auf zu Montreals Unterwelt. Unter der Stadt gibt es ein Wegsytem, das, mit den Metrostationen verbunden, die Stadt über 30km netzartig durchzieht. Hier gibt es mehr als 1700 Geschäfte, Bistros und Restaurants. Als Fremde in der Stadt braucht man seine Zeit, um die Eingänge, die Ausgänge und die Orientierung zu finden. Eine eigenartige Erfahrung untertags durch lange leere Gänge zu gehen und plötzlich in einem riesigen Shoppingcenter (über mehrere Stockwerke) zu stehen.

Erst jetzt verstehe ich, wieso in den Strassen so wenige Geschäfte und Einkaufsmöglichkeiten zu finden sind. Die Menschen hier bewegen sich vom Wetter geschützt in der Einkaufsunterwelt durch die Stadt. In einer Stadt unter der Stadt.

Viarail Canada

Geprägt durch die Bahnen in der Schweiz, die mehr oder weniger pünktlich fahren, in die man als Fussgänger einfach und als Rollstuhlfahrer mit normalerweise einstündiger Voranmeldung einsteigen kann, gilt es dieses Denken in Kanada für Fernverbindungen zu entsorgen. Ohne Reservierung geht auch für Fussgänger nichts. Die Tarife sind unterschiedlich je nach Tageszeit und Auslastung. Während die Strecke von Toronto nach Kingston (260 km) für eine bezahlende, eine Begleitperson (gratis) inklusive Mahlzeit im Businessabteil 84 Franken (106 CA$) kostete, war die Fahrt von Kingston nach Montreal (190 km, Freitagabend) 192 Franken teuer. Die Reisen von Montreal nach Ottawa (200 km) und drei Tage später von Ottawa nach Toronto (460 km) belasten das Budget mit 344 Franken. Inbegriffen zwei Mahlzeiten und Rollstuhlverlad für 20 Franken. Spannend ist die Tatsache, dass der Begleiterausweis der SBB (in der Schweiz fahren Begleiter gratis mit) in Kanada genügte, von der Vergünstigung profitieren zu können.

Die Anzahl Verbindungen pro Tag und Strecke bewegt sich zwischen sieben und zehn. Die Länge der Züge ist mit ebensovielen Waggons bescheiden. Ganz im Gegensatz zu Güterzügen, die unglaubliche Längen (bis vier Kilometer) aufweisen und teilweise pro Wagen zwei Hochseecontainer gestapelt haben. Bahnfahrten in Kanada sind spannend und vor allem auch landschaftlich ein Erlebnis.

Der Service für Rollstuhlfahrer ist prima und grosszügig. Die Verlade funktionieren einwandfrei. Dass man sich als Schweizer Rollstuhlfahrer selbst auf dem Präriebahnhof von Kingston zuhause fühlt, hat aber auch mit der Seilbahnbaufirma Garaventa zu tun. Die Treppenlifte für Rollstuhlfahrer sind schweizerischen Ursprungs. Einzig der Eurokey (Schlüssel für Behindertenlifte und -toiletten) passte nicht.

Einkaufsbummel in Kingston

Eigentlich hätte ich genügend warme Kleidung eingepackt, sprich dicke Pullis und einen Fleece- Mantel. Doch mit Gips hat das Kleiderschichten seine Grenzen. Der Arm findet in den letzten zwei von fünf Ärmeln einfach keinen Platz mehr oder der Gips wird schmerzhaft gegen meine Verletzung gedrückt. Die Idee, wie der Kälte zu trotzen ist, kommt von Christoph: eine Daunenjacke anschaffen. Die gibt warm und das Anziehen wird viel einfacher. Gesagt, getan, oder besser wir machen uns dafür auf den Weg.

Kingston hat eine Einkaufsstrasse, die Princess-Street. Hier findet sich alles, was das Herz begehrt: Papeterien, Accessoires für die Wohnung, Männerunterwäsche, Coiffeursalons, Nailstudios, Warenhäuser, Apotheken, Pizzerien, Sushi-Läden, Antiquariate und Kleidergeschäfte für Gross und Klein. Alle diese Geschäfte sind in altem, englischem Stil gebaut und vermitteln einem das Gefühl, in Notting Hill gelandet zu sein.

Wir entdecken auf unserem Bummel eine Bäckerei mit integriertem Café. Beim Eingang steht das Gestell mit frischem Brot, daneben hat man Einblick in die riesige Backstube. Weiter gehts an Gestellen mit Süssgebäck und Käse vorbei, eine Rampe hinauf ins Café. Die Tische stehen eng, darauf liegen Stoffservietten aus unterschiedlichsten Stoffresten genäht. Die Wände sind hellgelb gestrichen, die Friese hellgrün, was dem Lokal eine frische heimelige Atmosphäre gibt. Wir fühlen uns hier wunderbar aufgehoben.

Frisch gestärkt machen wir uns weiter auf die Suche nach einer warmen Jacke für mich. Erstes Geschäft: die billigste kostet 298$, die teuerste 878$, was mein Budget definitiv sprengt. Im nächsten Geschäft sind die Jacken entweder modisch zu kurz und weit geschnitten oder ich versinke in einem Mantel wie in einem Zelt. Das dritte hat Hochglanz-Jacken, in denen ich mich fast spiegeln kann oder auch wieder fast 300$ teure Daunenjacken.

Da unser Bus zur Train Station bald fährt, verschieben wir den Jackenkauf. Vielleicht werden wir in Montreal fündig.

Rückflug wird grösste Herausforderung

Unsere ursprünglich geplante Kanada-Reise sollte uns von Vancouver am Pazifik nach Halifax am Atlantik führen. Quer durch Kanada mit dem Zug. Entsprechende Angebote prüften wir. Sehr schnell zeigte sich aber, dass diese Strecke für einen Rollstuhlfahrer im Zug (fast) nicht machbar ist. Von Jasper bis Toronto wäre ich drei Tage und Nächte am Stück in die Schlafkabine verbannt gewesen. Wie man bei dem Geruckel und den Schlägen auf der Strecke hätte schlafen sollen, kann ich mir nicht wirklich vorstellen. Da die ganze Durchquerung Kanadas im Zug ausser Rang und Traktanden fiel, kamen verschiedene Transportmittel zur Diskussion. Zug, Auto, Flugzeug, Auto.

Vancouver als Ausgangspunkt und Halifax als Zielort waren gesetzt. Im April wurden die Flüge von Zürich nonstop nach Vancouver und Halifax via Toronto bei Swiss gebucht. Die Durchführung der Flüge sollte durch Air Canada erfolgen. Anfang Juni erfolgte die Reservierung des Zuges von Vancouver nach Jasper. Im September standen die Hotels in Vancouver, Victoria und Jasper fest. Das Auto in Jasper war gemietet und der Flug von Calgary nach Toronto gebucht. Um die restlichen Hotels und das Auto in Toronto wollten wir uns nach Ankunft in Kanada kümmern. Wie bekannt, kam es anders. Vorausplanen wurde schwieriger, mangels (Auto-) Flexibilität verringerte sich die Auswahl für Rollstuhlfahrer geeigneter Unterkünfte massiv. Und je östlicher uns unsere Reise führte, desto schwieriger wurde es. Okay, Zimmer für 1’000 Franken die Nacht wären verfügbar gewesen. Aber damit wäre das Reisebudget massivst überschritten worden.

Heute, auf der Zugfahrt von Kingston nach Montreal steht der Rest unserer Reise. Drei Nächte werden wir in Montreal verbringen, gefolgt von drei Übernachtungen in Ottawa und einer Übernachtung nochmals in Toronto. Gereist wird mit der Bahn. Soweit alles klar und ohne absehbare Probleme.

Eigentlich. Wäre da nur nicht noch der nicht benötigte Flug von Halifax nach Toronto. Die Buchung lautet Halifax via Toronto nach Zürich. In beiden Flugzeugen haben wir unsere Plätze. Kein Grund für Aufregung. Aber da macht man die Rechnung ohne den Wirt, respektive ohne die Fluggesellschaften. Wird ein Zubringerflug nicht angetreten, verfällt der Anspruch auf den Folgeflug. Die Airlines nennen das „no show“. Damit nun der Hauptflug gültig bleibt, habe ich der Swiss eine E-Mail mit unserem Anliegen geschrieben. Fünf (!) Tage später folgt eine Antwort, man solle sich mit den Kollegen in Kanada in Verbindung setzen. Also rufe ich die mitgeteilte Nummer an. Der Kanadier versteht unser Anliegen nicht, ebensowenig die Buchungsreferenz TLERM7. Ich soll es buchstabieren. T wie Toronto, L wie London, E wie Edmonton. Er versteht immer noch nicht. Knapp erinnere ich mich ans Fliegeralphabet: Tango-Lima-Echo-Romeo-Mike-Seven. Nun hat er verstanden und sagt: Das ist ein von Air Canada durchgeführter Flug, dafür sind wir nicht zuständig. Bevor ich etwas sagen kann, hat er mich aus der Leitung geworfen…

Und so bleibt die Frage offen, ob wir am 27. Oktober wieder in der Schweiz landen werden, ohne einen neuen (teuren) Flug buchen zu müssen. Wir hätten dann vier Plätze im Flieger. Bekämen wir dann auch viermal die Verpflegung?

More to come – stay tuned!

Die Island Queen und 1000 Inseln

Blau, weiss, rot, gelb, grün. Von diesen Farben umgeben sind wir unterwegs am Ende des Lake Ontarios, da wo er in den St. Lawrence River mündet. Die Island Queen pflügt sich durch die dunkelblauen Wellen. Das Sonnenlicht glänzt auf dem Wasser, weisse Schaumkronen huldigen die Queen. Der Indian Summer steht am Ufer Spalier und begleitet ihre Fahrt in den schönsten Farben. Die Island Queen ist ein altehrwürdiger Dampfer, sie erinnert mich stark an die Mississippi- Dampfer aus alten Filmen. Die Fahrt geht durch 1000 Inseln, grosse, bewohnte, kleine und kleinste, die man mit etwa fünf Schritten überqueren könnte. Die Engländer, oder genauer Sir John Mac Donald, ein Schotte und seine Gefolgschaft, entdeckten diese Inseln anfangs des 19. Jahrhunderts und nahmen sie in Besitz. Ein Fort mit Britischer Flagge und Kanonen zeugt noch heute von deren Wehrhaftigkeit. Sie verteidigten das strategisch gut gelegene Land erfolgreich gegen die Franzosen. Heute sind viele der Inseln bewohnt, zum Teil hat es nur gerade für ein einziges Haus Platz, auf anderen hat es kleine Siedlungen. Wie es wohl ist alleine, ohne Nachbarn auf einem kleinen Eiland zu leben? Nachbarfehden sind da nicht möglich. Und bei Bedarf nach Kontakt ist die nächste Insel kaum mehr als zehn Ruderschläge entfernt. Das Wasser- und Insellabyrinth wirkt eng und weit zugleich. Ich bin froh, dass sich die erfahrenen Seebären gut auskennen und uns sicher in den Hafen von Kingston zurückbringen.

Slapstick

Wikipedia schreibt: Charakteristisch für den Slapstick sind körperbezogene, wortlose, visuelle Formen der Komik. Und komisch ist es für Personen um uns herum alleweil, wenn wir uns gegenseitig helfen (müssen). Vor einigen Jahren habe ich in einem Artikel über ein Eishockeyspiel geschrieben: Man hätte das Gefühl bekommen können, auf dem Eisfeld seien sich Lahme und Blinde gegenüber gestanden. Auf unsere Situation übertragen heisst das: Eine auf einen funktionierenden Arm Reduzierte (ist das ein moralisch-ethisch vertretbarer Ausdruck?) ist mit einem teillahmen Rollstuhlfahrer unterwegs. Das noch in einem fremden, aber gastfreundlichen Land und in Ermangelung an zum Autofahren notwendiger Hände auf den öffentlichen Verkehr angewiesen (uiiih, die Formulierungen werden komplizierter, doch das passt zu unserer Situation!).

Es gäbe für jeden Tag unzählige Slapstick-Momente zu erzählen. Ich will mich aber an dieser Stelle auf zwei beschränken. Die erste spielt in einem Restaurant. Nach Tagen mit Pouletstückchen mit Gemüse und Reis (alles in mundgerechter Grösse), Fisch und Kartoffelstock (eigentlich eine unmögliche Kombination für Feinschmecker) und Pasta-Essen (auch gut mit nur Gabel essbar) ist uns wieder einmal nach einem grossen, feinen Stück Rindfleisch (ein Stück Fleisch und nicht gehackt). Die Herausforderung beginnt schon bei der Platzwahl am Tisch. Gegenüber geht nur, wenn der Tisch nicht zu gross ist. Nebeneinander ist besser, bedingt aber, dass die zwei funktionierenden Hände in der Mitte sind. Also: Frau mit gesundem linken Arm rechts (für Gabel), Mann mit gesunder rechter Hand links (für Messer). Weil wenn anders, dann Fleisch zu klein oder Distanz zwischen Messer und Gabel zu gross.

Zweites Beispiel: Schnürschuhe binden. Ich habe schon länger auf schnürsenkellose umgestellt. Vera logischerweise nicht. Wobei sie vielleicht trotzdem das in Erwägung hätte ziehen können. Nach Murphys Gesetz löst sich ein Schuhbändel nicht im Hotelzimmer, sondern mitten auf einem belebten Weg. Um die Situation nachzuerleben, braucht es nicht viel: Probieren Sie einmal mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin gemeinsam einen Knopf zu machen. Noch Fragen?

Aber wir lernen schnell. Und wir sind trotz des Unglücks glücklich. Es hätte schlimmer kommen können. Dann nämlich, wenn die gleichen Seiten betroffen wären. Vorzugsweise die rechte. Warum die rechte? Klar doch, wir sind Rechtshänder. Die obigen Szenen wären dann nicht mehr komisch, sondern tragisch komisch…

More to come – stay tuned!

Von Toronto nach Kingston

Pünktlich um 15 Uhr stehen wir in der riesigen Halle der Union Station in Toronto und diskutieren, wo wir den für uns zuständigen Zughelfer treffen müssen. Noch bevor wir uns geeinigt haben, steht ein älterer Herr neben uns und fragt nach Christopher. Der englische Gentleman begleitet uns zum Zug nach Kingston. Neben einer einem Ungeheuer ähnlichen Lokomotive (gross, grün, zischend) vorbei gehts zu unserem Wagen. Der Hebelift steht schon bereit, und bald sind wir im Zug verladen. Was nun folgt, ist ein weiteres unvergleichliches Erlebnis: Empfangen werden wir von Luis-Angel, einem Kubaner, der fliessend Englisch, Französisch und sogar einige Sätze Deutsch spricht. Sehr charmant und mit herzlichem Humor ist er um unser Wohl besorgt. Bald sitzen wir in bequemen Ledersesseln, vor uns steht ein länglicher Klapptisch. Mélanie, eine frankophone Kanadierin kümmert sich um Mr. Ed. Dieser überlässt sich vertrauensvoll den weiblichen Händen und den Gurten, mit denen sie ihn für die Fahrt sichert. Kurz nach der Abfahrt kommt Luis-Angel mit einem Getränkewagen vorbei und fragt nach, welchen Drink wir möchten. Er hat alles dabei: Weisswein, Rotwein, Wodka, Whisky, Rum, Gingerale, Wasser, das obligate Eis und vieles mehr. Dazu gibt es ein Säckchen mit Snacks. Wir sitzen da und staunen. Doch wichtiger als Drinks und Snacks ist uns die vorüberrasende Landschaft. Der Zug fährt 120 – 150 km/h und schwankt dabei hin und her, wenn er über Weichen und Bahnübergänge donnert. Vor jedem Bahnübergang hupt er langanhaltend. Es gibt zahlreiche Hupkonzerte auf der Strecke nach Kingston. Die Reise geht über Land, an immensen Kornfeldern, Wiesen und herbstlich gefärbten Wäldern vorbei. Auf der anderen Seite taucht ab und zu der riesige Lake Ontario mit Sandstränden und malerischen Buchten auf. Nicht lange nach dem Apéro erscheint Mélanie und fragt, welches Menü wir gerne hätten. Essen gäbe es schon um 16.30 Uhr, da der Zug um 18.00 Uhr in Kingston ankomme. Wir sitzen da und staunen noch mehr. Ein Menü, das im Fahrpreis inbegriffen ist? Ein dreigängiges Menü, wohlgemerkt. Wir haben die Wahl zwischen Fish, Chicken oder Pork mit unterschiedlichen Beilagen, dazu Salat und ein Stück Kuchen. Zu Kaffee oder Tee gibt es einen Riegel Schokolade. Wir sitzen da, staunen und geniessen all das, was uns im Zug und ausserhalb geboten wird. Bald geht unsere Fahrt dem Ende zu und wir machen uns für den Ausstieg bereit. Erst werden Christoph und Mr. Ed ausgeladen. Danach komme ich mit Swiss-Trac und Koffer nach. Als ich wieder festen Boden unter den Füssen habe, schaue ich mich um: Wiesen, Büsche, vereinzelte Bäume, ein kleines Gebäude und eine schmale Strasse. Zum Glück sehe ich an einem Pfosten ein Schild. Kingston steht tatsächlich darauf. Meine erste Frage an Christoph: Wo sind wir denn da gelandet? Alles löst sich in Minne auf (fast alles!). Ein Bus fährt uns ins Zentrum einer hübschen englischen Kleinstadt. Nach einem zehnminütigen Marsch durch Schneegestöber kommen wir im Hotel an. Was noch nicht im Lot ist? Unser Zimmer ist nicht rollstuhlgängig. Für solche Zimmer müsste das Hotel umgebaut werden, erfahren wir vom Rezeptionisten. Zum Glück sind wir gut im Improvisieren. Ein Balkonstuhl muss als Duschstuhl herhalten und die Überschwemmung im Bad nehmen wir gelassen. Noch etwas? Ja! Mr. Ed ist frustriert. Als wir unsere Billette nachträglich genauer anschauen wird klar, dass Mr. Ed einen im Fahrpreis inbegriffenen Snack zugute gehabt hätte. Mélanie hat ihm diesen aber vorenthalten. Die Banane, die ich ihm stattdessen anbiete, verweigert er stur.

Toronto

Wir sind gespannt und neugierig auf diese Weltstadt, die grösste Stadt Kanadas. In ihr und ihren Agglomerationen wohnen über sechs Millionen Menschen, also fände hier fast die ganze Schweizer Bevölkerung ein Zuhause.

An der Union Station, dem Zentralbahnhof von Toronto, steigen wir aus dem Taxi. Da wir das Frühstück wieder einmal verschlafen haben (durch die späte Flugankunft wurde auch die Bettzeit nach hinten verschoben), machen wir uns auf die Suche nach einer Essgelegenheit.

Beim ersten Fussgängerstreifen werden wir fast von der entgegenkommenden Menschenmenge überrannt. Wie ging es doch in Vancouver und Calgary gemütlich zu! Ein Polizist sorgt für einen einigermassen geordneten Ablauf der Blech- und Menschenlawinen. Unser Trio ist ziemlich überfordert mit diesen eiligen und rücksichtslosen Menschen hier. Wir flüchten in einen Food Court, verlaufen uns erst auf der Suche nach einem Lift für Christoph und Mr. Ed, finden aber schliesslich mit Hilfe einer Geschäftsangestellten, was wir wollen.

Bald ist es Zeit, die Scotiabank Arena zu suchen. Es ist nicht schwierig, brauchen wir doch nur den Toronto Maple Leafs Fans in ihren blauen Eishockey-Shirts zu folgen. Ja, ganz genau! An diesem Abend besuchen wir das NHL-Spiel Toronto-Los Angeles. Und wer jetzt denkt, ich sei ein Eishockey-Fan liegt falsch. Christoph ist der Begeisterte, spielte er doch früher selber Eishockey, und ein Kanadisches Spiel live mitzuerleben, ist ein grosser Wunsch von ihm. Ich lasse mich gerne auf Neues ein und dieses Spiel verspricht ein Spektakel zu werden. Ich werde auf professionelle Art in die Kanadische Art des Eishockeyspiels eingeweiht. Es macht auch mir Greenhorn Spass, diese Show zu verfolgen, bei der Eishockey eher eine Begleiterscheinung bleibt. Ein toller Abend!

Am nächsten Morgen werden unsere Ausflugspläne wegen Mr. Ed durchkreuzt. Nein, nein, keine Sorge, er ist stabil und funktionstüchtig! Aber der Bus, der uns zu den Niagara Falls hätte mitnehmen sollen, ist für Mr. Ed nicht zugänglich. Tja, auch hier im rollstuhlfreundlichen Kanada gibt es noch unüberwindbare Hindernisse. Wir drei können aber gut leben damit und beschliessen stattdessen eine Sightseeingtour im Bus zu machen. Das Sightseeing beginnt schon auf dem Weg in die Stadt. Wir fahren mit Bus und Zug, fahren durch Aussenquartiere, die Touristen wohl sonst kaum zu Gesicht bekommen. Schäbige Wohnblocks, arabische und afrikanische Bewohnerinnen und Bewohner im Bus und unterwegs. Ich fühle mich hier als Exotin und fehl am Platz. Und ich staune einmal mehr über die Gegensätzlichkeiten Kanadas. Obwohl es diese Gegensätze auch bei uns gibt. Hier kommt sie mir einfach augenfälliger vor.

Doch nun zu unserer Bustour durch Toronto. Den roten Doppeldecker finden wir schnell. Hinter dem Steuer sitzt Vader Abraham (Christoph nennt ihn so!): zuerst fällt mir der hellgrüne Turban auf, darunter blitzen Augen hinter einer runden Nickelbrille, dann der lange, weisse Bart. Jeder Nikolaus würde neidisch. Darunter eine knallrote Arbeitsjacke, in der gleichen Farbe wie der Bus. Sein Fahrstil ist wohl den Möglichkeiten des eher altertümlichen Fahrzeuges angepasst. Es rumpelt und quietscht und holpert und ruckt…

Aber wir bekommen eine Menge von Toronto zu sehen und erfahren Etliches über die Geschichte der Stadt: Handelsstadt im 19. Jahrhundert, zwei Brände im 20. Jahrhundert, die die halbe Stadt zerstörten. Unterschiedlichste Quartiere, ursprüngliche Häuser, Chinatown, Konzerthallen, modernste Museen und ein riesiges Schloss, mit einer Stilmischung aus europäischen Vorbildern. Nach zwei Stunden steigen wir reich an Eindrücken an der Habourfront aus. Ja, richtig, wir sind wieder einmal hungrig. Ein tolles Lokal wartet auf uns: Amsterdam Brew House. Eine alte Bierbrauerei, in der es nebst Bier auch feinen Lachs zu essen gibt.

Auf dem Weg zurück ins Hotel machen wir noch bei einem Billett-Schalter in der Union Station Halt. Mit Mr. Ed kann man nicht einfach schnell ein Bahnticket lösen. Er verlangt eine Sonderbehandlung und viel Geduld der Bahnfrau und von uns. Aber wir brauchen ihn ja, deshalb nehmen wir solches gerne in Kauf.

Etwas Gutes hat ja mein gebrochenes Handgelenk schon gebracht: Wir entdecken die öffentlichen Verkehrsmittel und sehen und erleben vieles, das wir mit dem Auto verpasst hätten. Die Tickets sind übrigens für die Zugfahrt nach Kingston gedacht, die nächste Stadt, die wir entdecken wollen.

Zwischen Faszination und Wahnsinn

Mr. Ed braucht nicht mehr vorgestellt zu werden. Seit Jahren leistet er gute Dienste, ist ein treuer Weggefährte und sorgt mit seinen Geschichten für aufheiternde Momente und vielfältige Reaktionen rund um die (halbe) Welt.

Mit auf der Reise ist aber auch noch ein Swiss-Trac, ein Rollstuhlzuggerät. Der Swiss-Trac überwindet mit einer maximalen Geschwindigkeit von 6 km/h Stock und Stein. Oder er dient als Zuggerät für Rollstuhl, Fahrer und viel Gepäck (Bild nach Ankunft in Toronto).

Was muss man noch wissen? Ach ja, das minimale Gewicht von 143 lbs resp. 65 kg. Während in Zürich die Aufgabe für den Flug nach Vancouver kein Problem war, sorgte das Schweizer Produkt am Flughafen Calgary für etwelches Stirnrunzeln, unzählige Telefonaten mit mehr oder minder befugten und kompetenten Sicherheitsleuten und Managern. Irgendwann ist die Aufgabe geschafft. Während des Fluges zur untergehenden Sonne denke ich einen Moment an mein Material und hoffe, der lädierte Mr. Ed, der Swiss-Trac und zwei Koffer sind ebenfalls mit uns an Bord. Wie das Bild beweist, war dem so.

Obwohl das Hotel in Toronto nur 850m vom Terminal entfernt ist, benötigten wir ein Rollstuhltaxi. Solche gibt es in der grössten Stadt Kanadas viele und sie sind sehr geräumig. Wenn aber jeweils die Taxifahrer das Gefährt sehen, treibt es ihnen den Schweiss ins Gesicht. Ihre Augen sagen alles: What the hell is this?! Je ferner und südlicher die Heimat desto grösser werden die Augen. In Calgary schaute der kleingewachsene Taxifahrer, dass die Distanz zum Swiss-Trac genug Platz für eine Flucht übrig liess. In Toronto versuchten sie beim Verlad ihr Regime durchzusetzen, kapitulierten nach kürzerer oder längerer Zeit. Die Transfers klappten am Schluss jeweils, obwohl sie sämtliche Sicherheitsvorschriften ausser Acht lassen mussten und der Rolli-Fahrer rückwärts mitfahren durfte.

Hey man, you are a trendsetter! What a cute machine! You must do business in Canada! Das waren drei von unzähligen Reaktionen im Eishockeystadion der Toronto Maple Leafs. Wenn die Leute dann noch erfahren, dass sich das Zuggerät ganz einfach vom Rollstuhl trennen lässt, fallen sie fast vom Stuhl, sofern sie auch wirklich auf einem sitzen. Es ist so simpel, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Ein Zuggerät, ein Rollstuhl und ein ein wenig verrückter Rolli-Fahrer genügen.

More to come – stay tuned!

Calgary

Was unternimmt man in Calgary? Unser Programm wird durch gewisse Umstände etwas eingeschränkt. Das Freilichtmuseum zum Thema der Geschichte der Einwanderer in Kanada hat schon Saisonschluss, unsere frische Wäsche ist aufgebraucht, und ich muss vor dem geplanten Flug nach Toronto mein gebrochenes Handgelenk in einer Klinik checken lassen.

Also trennen sich unsere Wege für ein paar Stunden. Christoph will die Laundry im Hotel ausfindig machen, und ich mache mich auf den Weg ins Spital. Der nette Kenny Hunt von der Front Desk hat mir das nächstgelegene auf einem Stadtplan eingezeichnet. Ein Taxi bringt mich zur Emergency des Sheldon M. Chumir Health Centre. Ich habe mein iPad, ein paar Snacks und Wasser dabei, so sollte ich die befürchtet langen Wartezeiten gut überstehen. Die Schiebetüre zum Eingangsbereich öffnet sich automatisch. Mir ist als sei ich in der Fernsehserie Emergency Room gelandet: Hinter einer Glasscheibe gleich bei der Warteschlange zur Anmeldung stehen zwei bullige Securítys, die für die Sicherheit der Patienten sorgen (so steht es auf einem Plakat). Nach dem Kurzcheck bei einer Nurse geht’s zu den Anmeldeformalitäten. Der asiatische Mitarbeiter bekundet einige Mühe mit meinem Namen und der Schweizer Adresse, fast mehr als ich mit dem linkshändigen Unterschreiben.

Danach heisst es warten. Warten zwischen Menschen von hier, zum Teil sehr armselige Gestalten, die oft zuerst in den Washroom geführt werden; zwischen alten, gebrechlichen Menschen, die in Rollstühlen sitzen, die man bei uns längst entsorgt hätte. Dann gibt es die jungen, taffen Kerle, die ihre Schmerzen scheinbar locker nehmen, Eltern mit Kindern, Ladys mit iPads wie ich. Zum Schreiben komme ich hier kaum, es gibt zu viel zu beobachten. Zur Orientierung hängt eine grosse Zeittafel an der Wand. Sie zeigt an, wie lange es dauert, bis man einen Arzt zu Gesicht bekommt. Bei meinem Eintritt waren es 1:35, also eineinhalb Stunden. Diese Angabe stimmt recht gut und nach dreieinhalb (3,5!) Stunden stehe ich wieder draussen und warte auf das Taxi. Ach ja, mein Knochen wächst immer noch in der richtigen Stellung zusammen, und ich darf nun mit einer Schlinge rumlaufen. Arm hoch und Finger bewegen, hat Dr. Thomas angeordnet. Damit die Schwellung meiner Hand zurück geht.

Zur Erholung machen wir später bei -1Grad und leichtem Schneefall warm eingepackt einen Stadtspaziergang. Wir fallen etwas von der Menge ab, die Menschen hier laufen zum Teil noch im T-Shirt herum. Die beleuchtete Stadt mit ihren Glastürmen und den einfacheren Häusern hat in der Dämmerung einen gewissen Reiz. Wir gehen bis zum Park am Fluss, der im Sommer sicher sehr belebt ist. Dann suchen wir wieder die Wärme unseres Hotels.

Der nächste Morgen bringt die Sonne und etwas angenehmere Temperaturen zurück. Vor unserem Flug nach Toronto gehen wir nochmals auf Besichtigungstour. Die Stephens-Street zeigt die Geschichte der Handelsstadt Calgary in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts auf. Mit dem Bau der Eisenbahn begann der Handel zu florieren. Noch heute scheint hier das Herz dieser Stadt zu schlagen. Die sich über mehrere Blocks und über vier Stockwerke erstreckende Einkaufsstrasse, die glänzenden, hohen Neubauten hinter den historischen Häuserreihen und die Firmen- und Banken-Inschriften zeugen davon.

Diese Stadt führt uns wieder sehr deutlich die gesellschaftlichen Unterschiede vor Augen. In den gläsernen Neubaufassaden spiegeln sich in Lumpen gehüllte, hinkende Menschen, die ihr ganzes Hab und Gut in einem Einkaufswagen vor sich herschieben.

Ob Toronto uns Ähnliches erzählen wird?

Ein Taxi nach Calgary

Die Busverbindungen nach Cagary sind nicht schlecht, sie dauern einfach ihre Zeit. Der eine Bus startet um 8.30 Uhr in Jasper, braucht inklusive Sightseeingtour 10 Stunden nach Calgary. Der zweite fährt um 12.30 Uhr los und ist gleichzeitig wie der frühere in Calgary.

Wir überlegen hin und her. Die komfortabelste Variante wäre ein Taxi. Sie kostet mehr, doch für uns beide Einarmigen und unser ganzes Gepäck die mit am wenigsten Aufwand und Leiden verbundene.

Also gut! Gesagt, getan…Um 11 Uhr ist unser Fahrer pünktlich da. Ryan, ein schlanker, grossgewachsener Mittvierziger mit langen Rastazöpfen, wachen Augen und spitzbübischem angegrauten Bart.

Er packt zu, hebt Mr. Ed mühelos in seinen Van, verstaut die Koffer und dann auch uns sicher auf bequemen Autositzen.

Everything okay? Do you want first coffee or tea?

Als wir erfreut zustimmen — für ein Frühstück hat die Zeit nicht gereicht — fährt Ryan in die Patricia Street und rennt zu Fastfoodkette Tim Hortens.

Wir staunen nicht schlecht als Tim, unser Begleiter und Fürsorger nach der Ankunft des Rocky Mountaineer, die Strasse entlang kommt. Das gibt ein freudiges und sehr herzliches Wiedersehen. Er hat seine kleine Tochter Brooklyn bei sich. Gerade vor wenigen Minuten hat uns Ryan von Tim, dem Single Daddy erzählt.

Unser Tag kann nur gut werden: der sympathische Ryan und das Wiedersehen mit Tim lässt uns optimistisch die Fahrt angehen.

Es wird eine unvergesslich schöne Reise mitten durch die Rocky Mountains. Diese Kolosse aus Granit und Gneis reihen sich pyramidenartig neben und hinter einander. Manche tanzen formmässig aus der Reihe, sind gezackt oder haben mehrere abgerundete Gipfel. Etwas haben sie alle gemeinsam, es ist, als hätte ein Riese seine Kuchen mit Puderzucker bestäubt.

Ja, es ist kalt draussen. Wir fahren an Schneehaufen vorbei und zeitweise durch Schneegestöber. Der Himmel hat schon seine Winterfarben angenommen und ich habe das Gefühl, an einem Wintertag im warmen Auto unterwegs zu sein. Dann scheint wieder die Sonne und im Hintergrund wird die nächste Schneewetterfront dicht und grau sichtbar.

Langsam werden die Rockys ausgedehnter, niedriger. Das enge Tal weitet sich in eine unendliche Ebene. Braune, buschige Felder reihen sich aneinander. Und dann tauchen plötzlich, wie aus dem Nichts, glänzende, gläserne Hochhaus-Türme auf. Calgary! Wir haben unser Ziel erreicht. Ryan war uns ein toller Fahrer und Reisebegleiter. Wir sind froh, in unserem Hotel gelandet zu sein und froh, als wir von Ryan die Nachricht bekommen, dass er wieder heil in Jasper angekommen sei.

Durchhängen in Jasper

Nach den turbulenten Ereignissen der letzten Tage haben wir beschlossen, uns einen ruhigen Tag zu gönnen. Ob Jasper hierfür der richtige Ort ist? Gute Frage! Je nach Möglichkeiten der Ruhesuchenden, würde ich meinen.

Am Abend unserer Ankunft zählt uns die recht angestrengt wirkende Rezeptionistin (hat sie gerade das anstrengende Check-in mit den Koreanerinnen hinter sich?) alle Möglichkeiten von ihrem Hotel und Jasper auf:

Thermalbad — ich halte meinen Gipsarm hoch.

Naturpark — wir deuten auf Mr. Ed, den wir im Moment vor weiteren Strapazen bewahren wollen.

Massage — nicht einfach bei einem Spastiker oder einer Armbruchpatientin, die sich nur in Massage untauglichen Körperpositionen entspannen kann.

Das Gesicht der jungen Frau wird länger und länger und mündet schliesslich in ein mitleidiges Schulterzucken …

Wir geniessen den freien Tag auf unsere Weise: Ausschlafen, gemütliches Aufstehen. Das Frühstück im Hotel lassen wir sausen. Wir machen uns gegen Mittag auf den Weg ins Zentrum  von Jasper und halten Ausschau nach einer Gaststätte und einem Reisebüro, um zu essen und unsere Weiterreise nach Calgary zu organisieren.

Wider Erwarten wird auch dieses doch eher anspruchslose Unterfangen zu einem kleinen Abenteuer. Die ersten Restaurants, die noch nicht Saisonschluss haben, sind nur über mindestens drei Stufen erreichbar. Die ebenerdig zugänglichen bieten kantonesisches Essen oder die unvermeidlichen Burger an. Richtig, das ist unseren Geschmacksnerven heute nicht zuträglich.

Je weiter wir gehen, desto mehr zugängliche Souvenirs-Shops und Restaurants werden sichtbar. Wir wählen ein Pizza versprechendes Lokal aus. Die Wände sind orange gestrichen, einfache Holztische stehen planlos angeordnet im Raum. Hinter der Theke, mit Einblick in die Küche, steht eine junge Frau. Ihr Slang ist nur schwer verständlich, doch wir kommen zu allem, was wir brauchen: Wasser in roten Plastikbechern, Pizza auf Blechformen, Besteck aus einem Kasten an der Theke und Servietten aus dem Behälter auf dem Tisch. Die Pizza schmeckt und wir sitzen im Warmen, was wollen wir mehr!

Aufgewärmt suchen wir das Reisebüro. Hier bekommen wir die Auskunft, dass zwar ein Bus nach Calgary fahre, dass dieses Büro jedoch erst die Fahrten ab 1. November organisiere. Das jetzt im Oktober zuständige habe aber schon Saisonschluss! Diese Info provoziert bei uns erst lange Gesichter, dann schallendes Gelächter.

Zurück im Hotel betrauen wir Derek, den jungen und aufgeschlossenen Herrn an der Reception mit der Aufgabe, unsere Reise nach Calgary zu organisieren. Der einfachere Weg zum Ziel. Obwohl, uns gefallen die abenteuerlichen meistens besser!

Mr. Ed am Ende (Part III)

Froh darüber, dass unser Hab und Gut immer noch im Zimmer ist, stehen wir nach kurzer Nacht mit einem hohen Erschöpfungsgrad auf. Am vorherigen Abend erschien uns das Zimmer klein. Über Nacht muss es geschrumpft sein. Zwei Rollstühle, drei Reisekoffer, drei Rucksäcke und zwei nur halb einsatzfähige Personen kämpfen um jeden Zentimeter im Zimmer. Einen Koffer voll zu öffnen, ist unmöglich. So unmöglich wie das Licht der altertümlichen Lampen. Farbe des T-Shirts? Dunkel! Im Zug stellt sich heraus, es ist rot.

Nun aber wieder zu Mr. Ed. Er und zwei Reisekoffer bleiben im Zimmer und werden später abgeholt und nach Jasper transportiert. Wir hoffen, sie werden Mr. Ed mit der ihm zustehenden Sorgfalt behandeln. Nach der gestrigen Erfahrung sind wir uns aber diesbezüglich nicht sicher. Während der Zugsfahrt laufen die Drähte, respektive in unserer modernen Zeit die Funkverbindungen zwischen dem Zug und der Zentrale in Vancouver heiss. Immer wieder wird uns das Bedauern über die Situation versichert. Laufend informieren sie uns über den Stand ihrer Bemühungen.

Gegen halb sechs Uhr erreichen wir den Bahnhof Jasper. Kurz vorher wird uns der Bordmechaniker Jason vorgestellt, der sich um die Reparatur von Mr. Ed kümmern wird. Er strahlt eine solche Zuversicht aus, dass wir uns sicher sind, dass er es schaffen wird. Kaum in der Bahnhofshalle angekommen, kümmern sich unzählige Leute um uns und Jason nimmt sich sofort Mr. Ed vor. Sein Strahlen verliert er auch beim Anblick des Häufchen Elends Mr. Ed nicht.

Elsa (jung und hübsch), Mary (70, welt-, lebens- und reiseerfahren), Jack (wahrscheinlich nur unwesentlich jünger als das 1925 erbaute Bahnhofsgebäude) und Tim, ein Mitvierziger mit einem stets lächelnden Gesichtsausdruck. Mit Tim werden wir noch viel lachen können. Als ich ihm sage, dass mein Rollstuhl Mr. Ed heisse, erinnert er sich sofort an die Fernsehsendung Mr. Ed und singt uns die Titelmelodie vor. Dann werden seine Augen gross und er ist verwundert, dass ich als Europäer die Sendung kenne. Jedenfalls fällt ein Spruch nach dem anderen. Gegenseitig treiben wir uns von einem Lachen zum nächsten.

Während wir uns amüsieren, arbeiten inzwischen fünf Leute an der Lösung unseres kleinen grossen Problems. Mal beugen sich vier Leute über Mr. Ed, Jason liegt unter ihm. Und Jason versichert uns, dass er keine Angst vor Pferden hätte. Ersatzteile werden auf dem ganzen Bahnhof gesucht. Und wären solche am Zug zu finden gewesen, sie hätten sie wohl abgeschraubt. Nach einer Stunde ist es dann soweit: Sitzprobe auf Mr. Ed. Und sie ist erfolgreich. Alle strahlen um die Wette. Mr. Ed ist nicht am Ende. Provisorisch geflickt, aber funktionstüchtig. Die Reise kann weitergehen mit einem gebrochenen rechten Arm, einem gelähmten linken Arm und einem lädierten Mr. Ed.

More to come — stay tuned!

Es geht weiter… Von Kamloops nach Jasper

Nach der gespenstischen und sorgenvollen Nacht im sagenumwobenen Hotel Plaza lichten sich mit den sich verziehenden Nebelschwaden langsam unsere Bedenken wegen Mr. Ed. Er soll von einem sehr erfahrenen Mountaineer Mechaniker in Jasper in Obhut und Pflege genommen werden. 

Der Transfer vom Hotel zum Zug gestaltet sich nicht ganz einfach. Christoph hat zu wenig Kraft, um sich selbst fortzubewegen, und ich kann den Rollstuhl einhändig nicht schieben. Wir werden von Haley, einer charmanten Angestellten des Rocky Mountaineers, abgeholt, in ein Taxi verfrachtet und zum Zug gefahren. Schon bald sitzen wir wieder in unseren Sesseln des Vortages. Kaum haben wir uns eingerichtet, steht der Zugsmanager Ira vor uns. Er strahlt soviel Kompetenz, Zuversicht und Herzlichkeit aus, dass wir uns langsam entspannen können. Als er uns zusichert, dass in Jasper entweder ein Ersatz-Elektro-Rollstuhl oder der geflickte Mr. Ed auf uns warten wird, steigt unsere Stimmung mit jedem gefahrenen Kilometer.

Ja, und schon steht wieder das doppelgängige Frühstück auf unseren Tischchen. Wir entscheiden, die Fahrt zu geniessen und uns verwöhnen zu lassen. Bald ist auch unser Lachen zurück. Das ist nicht sehr schwierig, da wir von sieben schlafenden, Musik hörenden, Karten spielenden Koreanerinnen umgeben sind, die nur hinausschauen und sofort aufspringen, wenn der Zug für ein Fotosujet die Fahrt verlangsamt. Dann zücken sie ihre Smartphones und schiessen Fotos, was das Zeug hält. Wach und aktiv sind sie auch, wenn es kulinarisch wird. Sie schaufeln das Essen in sich hinein, als hätten sie vor dieser Fahrt tagelang gefastet. Doch das ist der unwichtigste Part unserer Fahrt!

Die Reise geht ausserhalb Kamloops durch ein weites Tal, das sich völlig von der gestrigen kargen Landschaft unterscheidet. Wir fahren durch grüne, fruchtbare Ebenen, die voller Beerenfelder sind: Cranberrys, Blueberrys and Strawberrys. Einfachste Siedlungen aus Blechhütten und Wohnwagen, davor Indianerpferde oder ein paar Kühe wechseln mit Farm- oder Blockhäusern ab.

Weiter geht’s durch dichte Wälder mit Tannen, Birken, Ahornen und Bäumen, die Farnen ähnliche Blätter haben. Mitunter ist der Wald beidseitig des Geleises so dicht, dass ich den Eindruck habe, wir fahren durch grüne Tunnels.

Zwischendurch lichtet sich der Wald. Flusslandschaften, eindrückliche Canyons mit Sandbänken tauchen auf. Ab und zu fliegt ein Seeadler oder eine Möwe vorbei. Ich hoffe immer noch, einen Bären zu sehen. Ob dieser Wunsch wohl heute in Erfüllung geht?

Ein für die Eisenbahnlinie der Canadian National typisches Phänomen begegnet uns heute immer wieder: die überlangen doppelstöckigen Güterzüge. Christoph zählt einmal 144 Wagons an einem Zug. Dies ergibt eine Zuglänge von bis zu zweieinhalb Kilometer! Sie donnern von riesigen Diesellokomotiven gezogen an uns vorbei. Der Rocky Mountaineer hält öfters an, um sie zu kreuzen.

Plötzlich weitet sich die Landschaft. Bewaldete Hügelzüge reihen sich schier endlos aneinander. Einmal steigt auf einer grossen Fläche Rauch auf. Waldbrände gibt es hier viele. Verursacht werden sie durch einschlagende Blitze, unachtsame Menschen oder werden gezielt gelegt, um den Wald zu erneuern. An vielen Hügelzügen wachsen neue Ahorne und Büsche, der Boden schimmert graugrün von den Flechten, die ihn überziehen. Dazwischen stehen die verkohlten Baumstämme der alten Bäume.

Und dann tauchen am Horizont die frisch verschneiten Gipfel der Rocky Mountains auf! Felsige urwüchsige Riesen kommen näher, erheben sich hinter den Flüssen, hinter grünen Wiesen und goldenen Bäumen. Der höchste von ihnen, der Mount Robson, zeigt uns heute sogar seinen Gipfel, der auf 3954 Meter in den Himmel ragt. Das sei ein höchst seltener Anblick, wird uns später erklärt. Also ein weiterer Höhepunkt dieses Tages.

Nun sind wir noch eine knappe Stunde von Jasper entfernt. Zum Abschluss der Reise gibt es ein Cookie und ein Glas Sekt. Gerade als wir anstossen wollen, schreit jemand: Bear!  Und tatsächlich, da steht ein riesengrosser Schwarzbär an der Böschung: Mein Bär!

Ob dies ein gutes Zeichen für unsere Einfahrt in den Bahnhof von Jasper ist? Gleich werden wir erfahren, ob sich Mr. Ed schon über unser Wiedersehen freuen kann und wir uns mit ihm. 

Mr. Ed am Ende (Part II)

20 Minuten nach dem Gespräch mit Rob klopft es an der Tür und vor ihr steht eine ältere Frau (mit einem einfachen wackligen Ersatrollstuhl), die wir in den Mitsiebzigern schätzen. Vera und ich schauen uns mit langen Gesichtern an. Die Länge dieser wächst noch an, als wir wiederum ihr Gesicht sehen, das innert Sekunden eine Verzehnfachung ihrer Altersfalten erfährt. Was sie denkt, äussert sie nicht. Ist es die Unordnung, die ihr die Sprache verschlagen hat? Oder der daliegende Rollstuhl, für den sie im Moment keine Lösung sieht? War ihre Stirn bis zu diesem Zeitpunkt noch faltenfrei, änderte das mit dem Anblick von Veras eingegipstem Arm.

Es war wieder einer dieser Momente, der förmlich nach einer Auflockerung schrie: Don’t worry, be happy. Ich erklärte ihr, dass wir es ja gut hätten: Mit je einer linken und einer rechten Hand liesse sich Fleisch schneiden, applaudieren. Sie dreht ihr Gesicht ab, damit wir nicht sehen, dass sie ihr Lachen unterdrücken muss. Aber nach meinem Einschub, dass shit happens und man entweder die Taube oder das Denkmal sei, prustet sie los. I’m so sorry, but it’s so funny. Tränen steigen ihr in die Augen auf, sie kriegt sich fast nicht mehr ein. Was will man auch anderes tun, als über die Situation zu lachen. Zwei Einarmige auf dem Weg durch Kanada.

Nachdem sie den Schaden aufgenommen und mit Carolyn telefoniert hat, verabschiedet sie sich mit dem Versprechen, bei jedem Denkmal an uns zu denken.

Mr. Ed steht wie ein Häufchen Elend im kleinen Zimmer. Nach diesen Tagen kann es nur noch der Galgenhumor sein, der uns nicht unser ganzes Hab und Gut aus dem Fenster werfen lässt. Und wenn es nicht der Galgenhumor ist, dann ist es der Tatsache geschuldet, dass es mit nur je einer linken und einer rechten Hand wohl nicht zu schaffen gewesen wäre…

More to come – stay tuned!

Mr. Ed am Ende (Part I)

Obwohl ich vor der Kanada-Reise zehn Kilo abgenommen habe, scheint es Mr. Ed zu viel Gewicht zum Bewegen gewesen zu sein. Jedenfalls kapitulierte er, sackte in die Knie und liess sich auch mit gutem Zureden nicht mehr dazu bewegen aufzustehen und mich zu unterstützen. Nach einer Inspektion meinerseits war klar, dass wir nun einen weiteren Patienten haben. Verbindungsstreben sind gebrochen. Ein Fortkommen undenkbar. Er wurde zusammen mit dem Gepäck auf einem Lastwagen von Vancouver zum Übernachtungsort Kamloops transportiert. Die kanadische Wildnis, die Wetterbedingungen oder sein Verdruss, nicht mit uns reisen zu dürfen, scheinen ihn im wahrsten Sinn des Wortes verletzt zu haben.

Die Situation wurde nicht einfacher, waren wir doch dem Namen nach (The Plaza) an einer guten Adresse einquartiert. Es ist das älteste Hotel in der Stadt mit einer eindrucksvollen Geschichte, wenn man den Anschlägen im antiquierten Lift glauben will. Und man kann fast behaupten, es ist noch im Zustand seiner Erbauung. Schöne Wasserhähne mochten die Stimmung nicht wirklich zu verbessern. Dass es im Zimmer geisterte (Licht stellte ab und an), passte zum Ambiente. Wahrlich kein gastfreundlicher Ort.

Und dann auch noch das kleine Problem mit Mr. Ed. Dass er mit nicht mehr zu Diensten stand, zeigte eindrücklich meine Abhängigkeit auf. Er fehlte zum einen als sichere Fläche zum Absitzen, als Halt, wenn’s um ein paar Schritte zu Fuss machen zu können geht. Und vor allem fehlte seine Motorkraft, um vorwärts zu kommen. Der von der Reisegesellschaft organisierte Ersatzrollstuhl mag für ein Alters- und Pflegeheim gut sein. Aber soweit bin ich noch nicht und hoffe, es lange noch nicht zu sein.

Im Moment ist nicht ganz klar, wie die Reise weitergehen soll. Nach Telefonaten mit Carolyn vor Ort, Manager Rob von der Rocky Mountaineer-Zentrale in Vancouver entscheiden wir, mit dem Zug die Reise nach Jasper weiterzumachen. Und nach den verschiedenen Gesprächen bekommen wir das Gefühl, die Kanadier werden für Mr. Ed und uns eine gute Lösung finden.

More to come – stay tuned!

Mit dem Rocky Mountaineer von Vancouver nach Kamloops

Pünktlich um 6 Uhr steht das Rollstuhltaxi vor dem Hoteleingang. Mr. Ed samt Christoph quetschen sich zwischen Swisstrac und Koffer. Vancouver-Sightseeing mit guter Sicht durchs Heckfenster am frühen Morgen im Kofferraum, eine Premiere. Nicht die einzige am heutigen Tag!

Beim Bahnhof der Rocky Mountaineer Gesellschaft werden wir von Gepäckträger Kevin empfangen. Er ist schon sehr munter und quasselte uns mit Infos und Fragen zu. Hinzu kommt sein kanadisches Englisch und ein leichtes Stottern. Da müssen wir aufwachen um mitzuhalten!

Der Empfang in der Halle ist very heartfull and very British. Alle Mitarbeitende des Mountaineer in Uniform und von echter warmer Herzlichkeit. Nun haben wir 45 Minuten Zeit für Coffee, Tea and Souvenirs, untermalt mit der Musik eines Flötisten. Very nice, indeed! Von heute an werden wir gut bewacht von Jasper, unserem Bären. In den Rocky Moutains kann dies durchaus von Vorteil sein.

Um 7.10 Uhr werden wir zu unserem Wagon begleitet. Christoph und Mr. Ed werden mittels Hebebühne in den Wagon verfrachtet. Mr. Ed kommt zurück, er wird im Truck mit dem Gepäck nach Kamloops reisen. Ich wünsche ihm gute Fahrt, gebe dem Personal letzte Anweisungen, wie Mr. Ed behandelt werden möchte und hoffe, dass er uns am Abend in Kamloops im Hotel wohlbehalten erwarten wird.

Und nun geht die Reise los. Die Sonne ist gerade aufgegangen, lässt die nahen Hochhäuser aufblitzen und die roten und gelben Blätter von Bäumen und Büschen leuchten. Sie leuchten mit unseren Augen um die Wette. Auf diesen Moment haben wir uns so sehr gefreut und sind nun doppelt dankbar, dass wir trotz des Ereignisses in Victoria in unseren Sesseln im Rocky Mountaineer sitzen.

Die Fahrt geht, ja, sie geht wirklich fast, im Schritttempo durch die Vororte Vancouvers, durch Industriegebiete. Zwischendurch bekommen wir einen Vorgeschmack auf die kommende Landschaft: gelbverfärbte Ahorne zwischen Tannen und Fichten, imposante Stahlbrücken über den Fluss, Sandbänke. Der Zug beschleunigt, verlangsamt, wenn es etwas Besonderes zu sehen und zu fotografieren gibt: Eine Felsformation, zwei sich kreuzende Eisenbahnbrücken, Valleys. Wir fahren stundenlang durch das Fraser Valley. Simon Fraser kam als sechzehnjähriger zur Zeit der Goldsucherzeit in dieses Valley. Er war krank und erfuhr von den Indianern, dass der Fluss an der engsten Stelle heilsame Kräfte habe. Er wagte sich todesmutig in das kalte, reissende Wasser und wurde wieder gesund und eine berühmte Persönlichkeit der kanadischen Goldgräbergeschichte.

Zwischen den Erläuterungen unserer Zugbegleiter werden wir fast nonstop kulinarisch verwöhnt. Vom Zweigang Frühstück über Drinks mit Snacks, zum Lunch mit Salat und feinstem Schokoladekuchen als Dessert. Begleitet von etwas Neuem für uns: Baleys-Tee. Mmmm… 

By the way: das Abendessen haben wir ausgelassen.

Nach den Flusslandschaften folgt in höheren Lagen die kärgere, aber nicht minder schöne Landschaft. Einzelne Fichten auf verschiedenst farbigem Felsuntergrund. Im Gestein findet sich Eisen, Kupfer oder Schwefel, das die Steine eingefärbt hat.

Immer wieder erschallt zwischendurch der Ruf: Eagles on the right side …. Four Eagles at the left … Riesige schwarz-weisse Seeadler sitzen auf Bäumen oder Masten, fliegen im Tiefflug über den Fluss. Bears … ertönt nur einmal. Leider hat der Zug diesmal nicht verlangsamt.

Am Ende der Reise, gegen 18 Uhr, fahren wir dem Kamloops Lake entlang. Die Natur ist weitestgehend unberührt und von karger Schönheit. Spuren von Menschen sind sichtbar, doch zeugen sie leider nicht von Behutsamkeit und Respekt gegenüber der Natur.

Der Zug hält still und wir werden von eisigem Wind empfangen. Was Kamloops uns wohl zu bieten hat? Vielleicht kann uns Mr. Ed schon etwas über dieses Goldgräberdorf erzählen.

Die französische Lady

Sie sitzt zwei Stühle von mir entfernt, aufrecht mit durchgestrecktem Rücken. Ihr Gesichtsausdruck zeigt mir ihr Unbehagen, gleichzeitig strahlt sie eine natürliche Würde aus. Lady like, würden es die Bewohner von Victoria vermutlich bezeichnen.

Wir sitzen in einem Warteraum zur Radiology in der Emergency of Island Medical Victoria. Die junge Frau zwischen uns wird aufgerufen. Wir sind unter uns. Da spricht sie mich an:

Warten Sie auch schon lange? Ihr English ist perfekt, doch ihr Akzent ist unverkennbar französisch.

Parlez vous français?, meine Frage. Ihr Gesicht hellt sich etwas auf.

Ah … oui ! Ob ihr Akzent so stark sei, fragt sie mich etwas erstaunt.

Wir tauschen unsere Unfälle aus. Sie war bei einer Freundin um Thanksgiving zu feiern, stolperte über eine Schwelle und brach sich vermutlich die Schulter. Aber mein Unfall und die Folgen für unsere Ferienreise seien ja viel schlimmer als der ihrige. Dabei verzieht sie schmerzvoll das Gesicht. 

Wir bekommen gewärmte Tücher, geniessen, dass die von den Schmerzen verursachte Kälte etwas abnimmt.

Später erzählt sie mir ihre Einwanderungsgeschichte: Sie kam mit ihrem Mann aus Frankreich nach Kanada. Er sei vor 40 Jahren verstorben, und sie lebe alleine hier in Victoria. Alleine mit ihren 82 Lebensjahren. Wenn es einmal  nicht mehr möglich sei, würde sie in ein Asyl umziehen.

Meine Frage, ob es für sie nicht einfacher wäre im französischen Gebiet Kanadas zu leben, verneint sie vehement.

C‘est à cause du clima. A Québec les hivers sont terriblement froids. 

Da werde ich aufgerufen. Wie gerne hätte ich ihr den Vortritt gelassen! Sie wartet schon länger als ich. Aber als Ausländerin werde ich offensichtlich privilegiert behandelt.

Wir wünschen uns gegenseitig alles Gute und vermuten, dass wir uns im nächsten Warteraum wiedersehen werden. Dem ist nicht so.

Am nächsten Tag während der Stadtbesichtigung verstehe ich die französische Lady. Sie passt in diese englische Stadt, und ich hoffe sehr, dass es ihr bald wieder besser gehen wird.

Das andere kanadische Souvenir

Rückblick auf Frühling 2014: Nur dank einer Eisenkette endete der Höllenritt auf Mr. Ed nicht in der Bucht. (Die ganze Geschichte gibt es hier nachzulesen.)

Sonntag, 7. Oktober 2018: Vor wenigen Minuten sind wir mit dem Bus in Victoria angekommen. Das Wetter nasskalt, aber das Hotel in Sicht. Unzählige Museen bieten Alternativen zu einem Stadtbummel. Die Pläne für einen interessanten Nachmittag mit einem anschliessenden feinen Nachtessen sind gemacht.

Doch dann gerät die Planung unvermittelt durcheinander. Ein Wuschhh, ein Plumps gefolgt von einem Aua Sch….. Vera liegt am Boden und hält sich die rechte Hand. Sofort kommen Leute zu uns und wollen ihr helfen. Eine ältere Frau fragt, ob sie die Ambulanz rufen soll, was sie dann auch tut. Veras Gesichtsfarben wechseln im Takt der Ampel in Sichtweite. Nach einer gefühlten Ewigkeit trifft die Ambulanz ein und bringt Vera in ein nahegelegenes Hospital.

17:20: Bin im Ambi-Wartesaal. Voll! Wird dauern! Musste 1040$ bezahlen.

17:26: Da steht, dass man 3-5 Std. warten muss.

17:37: Hoffe, dass ich nicht hier bleiben muss.

17:53: Röntgen

18:31: Also: gebrochen und verschoben. Sie richten es unter Narkose und gipsen. Narkose daure 10 Min..

18:40: Jetzt geht’s mir besser. Wir können weiterreisen 😊

20:21: Bin wieder wach. Gut gegangen noch etwas dusselig

20:35: Kannst du bitte schauen, dass ich/wir noch etwas zu essen bekommen? Weiss nicht, wann ich entlassen werde.

20:50: Warte auf den Arzt. Er schreibt eine Bestätigung für das Spital in Calgary oder Toronto um zu kontrollieren, dass der Knochen nicht verrutscht ist.

22:24: Komme bald mit dem Taxi.

22:39: Bin unterwegs

Mit einem blau eingegipsten rechten Arm kommt sie um 23 Uhr im Hotel an. Nun, die einen kaufen sich in Shops irgendwelche Souvenirs, Vera wollte wohl ein spezielles mit nach Hause nehmen.

Ja, und so wird die Reise ab sofort abenteuerlicher. Der einarmige Rollstuhlfahrer (der linke Arm ist wegen starker Spastik nur teilweise einsetzbar) wird von nun an von einer einarmigen Freundin begleitet. Ein linker Arm und ein rechter Arm. Perfekt! Zusammen geht vieles; applaudieren, Fleisch schneiden, Schuhe binden…

Der Stimmung war es glücklicherweise nicht abträglich. Beim Frühstück strahlt Vera jedenfalls wieder und die Reise kann weitergehen. Abbruch des Trips und Rückflug ist keine Option: Vera hat eine Woche Flugverbot.

More to come – stay tuned!

Die gläserne Stadt

Endstation des Canada Line SkyTrain, der uns vom Flughafen ins Stadtzentrum von Vancouver fährt. Meine erste Kopfbewegung beim Ausgang der Waterfront Station geht nach oben. Ja, mein Blick wird förmlich nach oben gezogen. Glänzende Glasfassaden streben zum Himmel, spiegeln sich einander und vereinen sich zu einer gläsernen Skyline. Faszinierend, schwindelerregend. Hier waren kreative Architekten am Werk. Je länger ich die gläsernen Türme. betrachte, desto mehr Details erkenne ich. Da gibt es auf der Höhe des 73. Stockwerkes einen Erker in moderner Dreiecksform, filigrane Holzverzierungen laufen über ganze Fassaden, auf Dachterrassen in geschätzten 300 Meter Höhe wachsen ganze Wälder, viereckige Höchsthäuser enden in einer Kuppel … Der Fantasie ist keine Grenze gesetzt. 

Mein Blick wird durch ein lautes Kuckkuck auf die Strasse gelenkt, oder genauer auf den Fussgängerstreifen. Hier zwitschern die Fussgängerampeln in etwas verstimmten Terzen, wenn die Strasse für die Fussgänger frei gegeben wird. So wird unser erster Spaziergang durch die Stadt von vielstimmigem Kuckuck begleitet. Eine wahrlich an Vogelstimmen reiche Stadt! Die Ampelanlagen an den Kreuzungen stehen mit ihrem altertümlichen Design im kuriosen Gegensatz zu den hochmodernen Glasfassaden. Altbewährtes mischt sich mit der Moderne. Dieses Motto begleitet uns durch die ganze Stadt. Alte, zweistöckige Bauten stehen neben Spiegeltürmen, Kirchen werden zwischen Neubauten fast zerquetscht, alte quietschende Busse rumpeln durch die Strassen, vorbei an Grieder–Boutiquen mit der neusten Mode.

Menschen aller Nationen drängeln durch die Strassen, eine multikulturelle Gesellschaft erzählt noch heute von der Einwanderungsgeschichte Kanadas.

Und mitten in dem Getümmel unser Trio: Christoph mit Mr. Ed und ich. Alle sind wir etwas übernächtigt, inzwischen ist es zuhause 4 Uhr morgens, was aber unserer Neugierde und Abenteuerlust nicht abträglich ist. Vor allem Mr. Ed scheint noch Energie zu haben. Bei den Ampeln mag er jeweils kaum das Kuckuck abwarten. Er steht schon lange vorher mit den Vorderrädern auf der Strasse. Oder ist er so musikalisch, dass er den verstimmten Terzen entfliehen will?