Der Indianer von Lake Louise

Zuerst werden zwei Beine sichtbar. Beine, die in einer roten, mit bunten Borten verzierten Hose stecken. Darunter feste Schuhe mit farbigen Überzügen aus Wildleder, ähnlich den indianischen Mokassins. Durch das Gebüsch leuchtet ein beigefarbenes Hemd. Fransen zieren die Ärmel, bestickte Bänder flattern im Wind. Zwischen Büschen sitzt eine regungslose Gestalt, aufrecht, in sich ruhend. Das Gesicht umrahmt von einem riesigen Federschmuck, gefertigt aus Adlerfedern. Die dunklen Augen sind in die Ferne gerichtet, auf den Gletscher am Ende des Sees. Lake Louise haben ihn die Engländer genannt. Louise war eine Tochter ihrer Königin Victoria. Wie seine Vorfahren den See nannten, weiss er nicht, zuviel Zeit ist seither vergangen.

Seine Hände klauben einen Brocken Brot mit Wurst aus einer Plastikschale. Er muss sich stärken, körperlich und seelisch. Langsam kaut er sein Essen. Sein Grossvater hat ihm dies beigebracht. Langsames Essen macht eher satt und hält länger das Hungergefühl fern. Die vielen Menschen um sich herum nimmt er in diesem Moment nicht wahr. Widme dich deiner Tätigkeit voll und ganz, weile im Hier und Jetzt, auch eine Weisheit seines Grossvaters. Ein paar Schlucke Wasser. Die Quelle des Lebens, die auch ihn labt. Er steht auf, legt die Plastikschale und seine Trinkflasche zurück in den Handwagen. Seinen Sitz klappt er sorgsam zu und vertraut auch ihn dem Wagen an. Im Gebüsch verborgen, sehen ihn die flüchtigen Blicke der Touristen nicht.

Er dreht sich wieder Richtung See, schaut zum ewigen Eis, das seine Vorfahren schon kannten. Mit geschlossenen Augen sucht er seine innere Ruhe, atmet tief ein und aus, einmal, zweimal. Beim dritten Mal öffnet er die Augen, verzieht seinen Mund zu einem Lächeln und geht die wenigen Schritte zum Seeufer. Hier steht sein Stein, sein treuer Gefährte, sein fester Boden, der ihm in der folgenden Stunde Halt gibt. Im Rücken das lebendige Wasser des Sees und die Unverrückbarkeit der Berge. Sie geben ihm Stärke und Geduld. Er ist bereit. Bereit für die Touristen als Fotosujet zu dienen und auf ihre Gaben zu warten.

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One thought on “Der Indianer von Lake Louise

  1. Hallo ihr beiden! Sehr tolle Erlebnisse und Erzählungen. Sehr spannend finde ich die Abwechslung zwischen euch und die Schreibweise. Zu dem Bericht muss ich nur eines sagen, es ist die harte Realität, der Indianischen Bevölkerung. Zuerst werden Länder und Völker bekämpft und letztendlich vertrieben und ausgenommen. Heute dienen Sie nicht nur der Geschichte, dafür aber auch als Objekt der Vergangenheit. Ich bin mir sicher, dass es vielen egal ist und einfach „nur“ ein Foto machen möchten. Ihr gebt es tiefgründig und auch geschichtlich an, was mich beruhigt.

    Geniesst eure Tage, habt weiterhin viel Spass und schafft tolle Erinnerungen!

    Liebe Grüsse!!

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