Es geht weiter… Von Kamloops nach Jasper

Nach der gespenstischen und sorgenvollen Nacht im sagenumwobenen Hotel Plaza lichten sich mit den sich verziehenden Nebelschwaden langsam unsere Bedenken wegen Mr. Ed. Er soll von einem sehr erfahrenen Mountaineer Mechaniker in Jasper in Obhut und Pflege genommen werden. 

Der Transfer vom Hotel zum Zug gestaltet sich nicht ganz einfach. Christoph hat zu wenig Kraft, um sich selbst fortzubewegen, und ich kann den Rollstuhl einhändig nicht schieben. Wir werden von Haley, einer charmanten Angestellten des Rocky Mountaineers, abgeholt, in ein Taxi verfrachtet und zum Zug gefahren. Schon bald sitzen wir wieder in unseren Sesseln des Vortages. Kaum haben wir uns eingerichtet, steht der Zugsmanager Ira vor uns. Er strahlt soviel Kompetenz, Zuversicht und Herzlichkeit aus, dass wir uns langsam entspannen können. Als er uns zusichert, dass in Jasper entweder ein Ersatz-Elektro-Rollstuhl oder der geflickte Mr. Ed auf uns warten wird, steigt unsere Stimmung mit jedem gefahrenen Kilometer.

Ja, und schon steht wieder das doppelgängige Frühstück auf unseren Tischchen. Wir entscheiden, die Fahrt zu geniessen und uns verwöhnen zu lassen. Bald ist auch unser Lachen zurück. Das ist nicht sehr schwierig, da wir von sieben schlafenden, Musik hörenden, Karten spielenden Koreanerinnen umgeben sind, die nur hinausschauen und sofort aufspringen, wenn der Zug für ein Fotosujet die Fahrt verlangsamt. Dann zücken sie ihre Smartphones und schiessen Fotos, was das Zeug hält. Wach und aktiv sind sie auch, wenn es kulinarisch wird. Sie schaufeln das Essen in sich hinein, als hätten sie vor dieser Fahrt tagelang gefastet. Doch das ist der unwichtigste Part unserer Fahrt!

Die Reise geht ausserhalb Kamloops durch ein weites Tal, das sich völlig von der gestrigen kargen Landschaft unterscheidet. Wir fahren durch grüne, fruchtbare Ebenen, die voller Beerenfelder sind: Cranberrys, Blueberrys and Strawberrys. Einfachste Siedlungen aus Blechhütten und Wohnwagen, davor Indianerpferde oder ein paar Kühe wechseln mit Farm- oder Blockhäusern ab.

Weiter geht’s durch dichte Wälder mit Tannen, Birken, Ahornen und Bäumen, die Farnen ähnliche Blätter haben. Mitunter ist der Wald beidseitig des Geleises so dicht, dass ich den Eindruck habe, wir fahren durch grüne Tunnels.

Zwischendurch lichtet sich der Wald. Flusslandschaften, eindrückliche Canyons mit Sandbänken tauchen auf. Ab und zu fliegt ein Seeadler oder eine Möwe vorbei. Ich hoffe immer noch, einen Bären zu sehen. Ob dieser Wunsch wohl heute in Erfüllung geht?

Ein für die Eisenbahnlinie der Canadian National typisches Phänomen begegnet uns heute immer wieder: die überlangen doppelstöckigen Güterzüge. Christoph zählt einmal 144 Wagons an einem Zug. Dies ergibt eine Zuglänge von bis zu zweieinhalb Kilometer! Sie donnern von riesigen Diesellokomotiven gezogen an uns vorbei. Der Rocky Mountaineer hält öfters an, um sie zu kreuzen.

Plötzlich weitet sich die Landschaft. Bewaldete Hügelzüge reihen sich schier endlos aneinander. Einmal steigt auf einer grossen Fläche Rauch auf. Waldbrände gibt es hier viele. Verursacht werden sie durch einschlagende Blitze, unachtsame Menschen oder werden gezielt gelegt, um den Wald zu erneuern. An vielen Hügelzügen wachsen neue Ahorne und Büsche, der Boden schimmert graugrün von den Flechten, die ihn überziehen. Dazwischen stehen die verkohlten Baumstämme der alten Bäume.

Und dann tauchen am Horizont die frisch verschneiten Gipfel der Rocky Mountains auf! Felsige urwüchsige Riesen kommen näher, erheben sich hinter den Flüssen, hinter grünen Wiesen und goldenen Bäumen. Der höchste von ihnen, der Mount Robson, zeigt uns heute sogar seinen Gipfel, der auf 3954 Meter in den Himmel ragt. Das sei ein höchst seltener Anblick, wird uns später erklärt. Also ein weiterer Höhepunkt dieses Tages.

Nun sind wir noch eine knappe Stunde von Jasper entfernt. Zum Abschluss der Reise gibt es ein Cookie und ein Glas Sekt. Gerade als wir anstossen wollen, schreit jemand: Bear!  Und tatsächlich, da steht ein riesengrosser Schwarzbär an der Böschung: Mein Bär!

Ob dies ein gutes Zeichen für unsere Einfahrt in den Bahnhof von Jasper ist? Gleich werden wir erfahren, ob sich Mr. Ed schon über unser Wiedersehen freuen kann und wir uns mit ihm. 

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