Wir verlassen Malmö. Meine Sorge vor dem Fahren eines mir unbekannten Mietautos in einer fremden Stadt ist völlig unbegründet. Wir fahren einen supermodernen Audi A6, ein Auto, das so weit von unseren Vorstellungen eines Alltagsautos entfernt ist wie Malmö von Amerika!
Der Vorteil: wir geben dem Navigationsgerät die Adresse in Brösarp, unserem nächsten Ziel, ein und nichts kann mehr schief gehen. Da auch in Schweden innerorts 50 km/h gelten und der Verkehr hier sehr ruhig, schon fast bedächtig ist, steure ich das Luxusgefährt sicher aus der Stadt. Zugegeben: es macht auch Spass, ein solches Auto leihweise zu fahren!
Die Route führt über Land, vorbei an schier unendlich grossen Getreidefeldern, Maisfeldern, Wiesen bis zum Horizont mit Kühen oder Schafen darauf und immer wieder dichten grünen Wäldern. Die Landschaft ist so weit, wie wir sie von Kanada kennen, doch viel abwechslungsreicher und viel flacher. Der höchste Berg hier in der Gegend erhebt sich 97 m über Meer!
Nach einer guten Stunde Fahrt biegen wir ab und erreichen das Dorf Brösarp. Unser Hotel «Brösarps Gästgifveri» ist schnell gefunden. Ich steige die Treppe zum Eingang hoch und trete ein. Geradeaus geht es in die Küche, rechts in das Restaurant, das in gedämpftes Licht getaucht ist und auf den ersten Blick etwas altmodisch wirkt. Links geht es zu einem Raum mit Bar, reichlichem Vorrat an alkoholischen Getränken und einigen Tischen. Die Rezeption ist in die Ecke zwischen Küche und Restaurant gequetscht, eine kleine Theke und einem PC -Bildschirm. Niemand ist hier. Ich sehe Küchen- und Servicepersonal in der Küche und einige im Restaurant herumwuseln. Doch scheint mich niemand zu bemerken. Nach einigen Minuten trete ich ins Restaurant und frage nach dem Check-in. Nach weiteren Minuten tritt die Wirtin, eine attraktive Mittvierzigerin an die Theke. Ein freundliches «Hej hej» und ich fühle mich willkommen. Sie erklärt mir in flüssigem Englisch wie die Schlüssel funktionieren und wo unser Zimmer sei, in einem weissen Haus mit grüner Tür. Das Zimmer sei grösser als die anderen und das WC habe Haltegriffe. Da bin ich ja mal gespannt! Die Skepsis nach dem Kopenhagener Erlebnis sitzt noch tief.
Also zurück auf den Parkplatz zu Christoph, der im Auto wartet. Ich mache mich auf die Suche nach unserem Zimmer: weisses Haus mit grüner Tür. Weisse Häuser gibt es einige, doch sind ihre Türen entweder rot oder blau. Ich sehe mich in der näheren Umgebung des Restaurants um, doch finde ich nichts. Zuletzt gehe ich nochmals zur Rezeption zurück, suche jemanden, der mir helfen kann. Schliesslich kommt die Wirtin mit mir mit – zum Nachbarshaus, weiss mit grüner Tür! Wo hatte ich bloss meine Augen? Ich schaue nicht lange, gehe zurück zu Christoph und parke das Auto auf den vorhandenen Behindertenparkplatz. Rollstuhl und Koffer ausladen geht gut, aber da ist noch der SwissTrac, den wir dringend brauchen, damit Christoph sich beim Aufstehen festhalten kann. 65 kg überfordern mich definitiv. Inzwischen vertraue ich auf unser Glück, auf meinen Charme und auf die Hilfsbereitschaft der Schweden. Und tatsächlich: ein ziemlich fülliger junger Mann mit seiner Frau spaziert an uns vorbei. Schnell spreche ich ihn an:«Sorry! Are you a strong man? Could you help me, please?» Er ist sofort neben mir, will die Koffer packen. Ich zeige ihm den SwissTrac und mache die Gewichstsangabe.«No problem», meint er, dreht den SwissTrac, packt zu und schwups steht das blaue Schwergewicht neben dem Auto. Stolz schaut mich der «strong man» an. Wir bedanken uns herzlich und machen uns auf zur Zimmerinspektion.
Christoph fährt die Rampe hoch und wir kommen in einen Vorraum. Ein altes Holzsofa mit Kissen steht am Eingang, die Wände sind mit einer Tapete mit grünem Blättermuster und grossen weissen Blüten versehen, der Flur ist etwas schummrig beleuchtet. Die Spannung steigt. Was erwartet uns wohl hinter der Zimmertür Nr. 27? Ich öffne die Tür und bleibe abrupt unter der Türe stehen. Das gibt’s doch nicht!
Ich fühle mich in eine andere Welt versetzt, in eine Welt, wie ich sie aus alten Bilderbücher meiner Grossmutter kenne. Die Wände sind bis auf halbe Höhe mit grünem Holztäfer eingefasst und darüber auch tapeziert, diesmal mit grünen Blätterranken. An der Wand hängen zwei Ölbilder, eines davon etwas schief. Darunter das Doppelbett, mit einer dunkelgrünen Samtdecke und grünen und gelben mit goldenen Stickereien verzierten Kissen. Rechts und links vom Bett stehen zwei filigrane Messingtischchen, oberhalb der Betten sind Messinglampen im Vintage-Stil angebracht. Eine goldene Uhr aus Grossvaters Zeiten hängt an der Wand, ein goldgerahmter Spiegel und ein goldener Garderobehalter mit Häschenbüste schliessen die Wanddekoration ab. Dann steht da noch ein antiker Schreibtisch aus Holz mit passendem Stuhl an der Wand, die verifizierte Einladung für solche Schreiberlinge, wie wir es sind. Die Beleuchtung gibt dem Zimmer mit ihrem warmen Licht eine märchenhafte Atmosphäre. Und so fühle ich mich auch: wie im Märchen.
Christoph weckt mich aus meiner Verzückung und fragt nach der Badezimmerausstattung. Ich öffne die Türe und stehe in einer grünen Badeoase: dunkelgrüne Kacheln an den Wänden, weisser Marmorboden. Die Armaturen sind aus dem letzten Jahrhundert und in goldenem Messing. Das einzig Moderne ist die gläserne Duschwand und das Klo. Platz genug für einen Rollstuhlfahrer ist da und das WC ist mit mobilen Haltegriffen versehen.
Wir sind in einem rollstuhltauglichen Paradies angekommen.